Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Als der Wagen nicht kam
Roman Folge 90
In der Lehrterstraße wurden mir nach Eintritt in die Zelle die Fesseln abgenommen. Ich saß dort in den nächsten Tagen und wartete. Nichts geschah. Am 10. Januar früh war die Spannung schier unerträglich. Der Morgen verging, der Tag verging, die folgenden Tage zitterten dahin. Nichts geschah. Etwa nach einer Woche erfuhr ich durch einige Flüsterworte mit dem Friseur beim Rasieren, dass der Prozess Moltke und Genossen stattgefunden hatte und Helmuth Moltke bereits gehangen war. Seitdem habe ich ständig seiner, Peter Yorcks und der andern toten Freunde in meinen Armenseelenfürbitten gedacht und wiederum ihren Beistand erbeten. Erst nach meiner Rückkehr nach Haus, Anfang Mai, erfuhr ich von meiner Schwester, wieso ich zu dem Termin Moltke nicht hingeholt worden war. Als meine Schwester zwecks Erlangung der Besuchserlaubnis im Vorzimmer des Staatsanwalts beim Volksgerichtshof gesessen hatte, stand die Tür zwischen dem Vorzimmer und dem des Staatsanwalts auf Ritz, so dass sie verstehen konnte, was dort gesprochen wurde. Die Unterhaltung ging um die Terminanberaumung im Prozess Moltke, und sie hörte, wie jemand die Namensliste der neun Angeklagten verlas, darunter meinen Namen. Liebe macht hellhörig und hellsichtig. Sie wusste, dass alles vom Zeitgewinn abhing, erkannte die schicksalsträchtige Bedeutung des Gehörten, stand still auf und lief zu Rechtsanwalt Boden. Diesen hatte sie, ohne dass ich etwas davon ahnte, als Verteidiger für mich gewonnen. Für die mit dem 20. Juli zusammenhängenden Fälle waren beim Volksgerichtshof nur etwa ein halbes Dutzend Anwälte als Verteidiger zugelassen, die das Gericht von Amts wegen zuwies. Sie galten, was naheliegend war, sämtlich als überzeugte und unerfreuliche Parteigenossen. Von einem uns von Münster her bekannten Holländer erfuhr meine Schwester jedoch, dass einer der Zugelassenen in Ordnung sei, den er vom Tennisklub Blau-weiß her gut kenne. Boden sei nicht Parteigenosse, habe das nicht nötig, weil er ein Schwager von Himmler sei, besitze aber dieserhalb großen Einfluss und liege goldrichtig, was sich voll bewahrheitet hat. Boden hatte den Fall übernommen und ihr gesagt, sie könne zu jeder Tages- oder Nachtzeit zu ihm kommen, wenn sie etwas auf dem Herzen habe. So ging sie also mit der beim Staatsanwalt erlauschten Nachricht eilends zu Boden, der sie trotz gefüllten Wartezimmers sofort vorließ und ohne Rücksicht auf die wartenden SSund sonstigen Uniformen mit ihr zum Staatsanwalt fuhr. Er ließ sie draußen warten, ging hinein und kam nach wenigen Minuten zurück mit der Nachricht, mein Fall sei von dem Verfahren Moltke und Genossen abgetrennt worden und werde gesondert verhandelt. Die übrigen Angeklagten im Verfahren gegen Moltke waren Haubach, Steltzer, Fürst Fugger, Pater Delp, Gerstenmaier, Reisert und Sperr. Vermutlich hat Boden es dem Staatsanwalt mit seiner Himmlerverwandtschaft abgerungen, vielleicht hat er ihm auch geraten, sich die Gelegenheit für ein späteres Alibi nicht entgehen zu lassen. Jedenfalls verdanke ich es diesem Eingreifen, dass ich heute darüber schreiben kann.
Schon am Tage nach meiner Einlieferung in der Lehrterstraße erhielt ich zu meiner Verwunderung ein Paket von meiner Schwester. Dieses Mal hatte sie nicht nach meinem Verbleib zu forschen brauchen. Sie hatte durch ihre Haltung den Sachsen in Drögen so beeindruckt, dass er ihr telefonisch meine Umsiedlung in die Lehrterstraße mitgeteilt hatte. Dort hatte sich seit meinem ersten Aufenthalt im Oktober vieles verändert. Die Ss-wachmannschaften waren durch alte Zollgrenzschutzleute ersetzt, die, aus allen Ecken des Reichs zusammengelesen, nicht vom Geiste des Nationalsozialismus erfüllt waren, sondern von der Sorge um das Geschick ihrer Familien. Sie wollten ihre Ruhe haben und überließen alles den Kalfaktoren; diese bestanden teils aus alten Kommunisten, die nach Verbüßung langer Freiheitsstrafen nicht entlassen wurden, teils aus Zeugen Jehovas. Mit den Kommunisten habe ich die besten Erfahrungen gemacht. Sie taten alles Erdenkliche, um den politischen Gefangenen zu helfen, mit denen sie sich in gemeinsamem Schicksal verbunden fühlten. In besonders guter Erinnerung ist mir Theo Baensch geblieben, den ich auch später noch in Berlin besucht habe. Die Zeugen Jehovas waren viel weniger erfreulich, engstirnig, ja gehässig und standen an Nächstenliebe hinter den Kommunisten zurück. Man konnte daher ungehindert mit den Wächtern sprechen, denn die wenigen Ss-funktionäre, welche das Bewachungspersonal kontrollieren sollten, waren hierzu nicht imstande und sahen den kommenden Dingen bereits sorgenvoll entgegen. Es bedurfte einer gewissen Anlaufzeit, bis ich diese Verbesserung der Lage herausgefunden hatte, die es dann ermöglichte, Nachrichten über die andern Gefangenen zu erhalten, ja ihnen solche zu übermitteln.
Meine schmutzige, düstere Zelle lag im dritten Stock nach Norden ohne einen Sonnenstrahl. Sie bot aber den Vorteil, dass man aus dem Fenster auf den großen Hof sehen konnte, in dem nachmittags die politischen Gefangenen – es gab in diesem Flügel nur solche – im großen Kreis zwanzig Minuten täglich spazieren gingen, wozu ich erst nach etwa drei Wochen zugelassen wurde. Ich erspähte aber schon in den ersten Tagen Lukaschek, Pater Rösch, Steltzer, Haubach und manche andern Freunde und Bekannte. Es war ein Stelldichein für alle anständigen Leute aus Deutschland. Dieser Spaziergang war das wesentliche Ereignis des Tages. Für ihn wurden zunächst alle Zellentüren geöffnet, so dass man die Nachbarn sehen konnte. Auf das Zeichen zum Beginn drängten dann alle sich bewusst auf den schmalen Eisentreppen zusammen, so dass dort für kurze Zeit eine ungehinderte Unterhaltung möglich war. Auf dem Hof stand in der Mitte ein Gestapobeamter, um den sich der weite Kreis der Gefangenen in je etwa zehn Meter Abstand herumbewegte. Man konnte diesen Abstand aber auch verringern und den Vordermann überholen, wobei man mit ihm sprechen konnte, ohne dass der müde Gestapomann es merkte oder merken wollte. Das System war am Zerbrechen. Schon beim ersten Spaziergang hatte ich mit Lukaschek gesprochen und nach und nach mit allen, die ich kannte.