Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Hongkonger Herbst
Die Wirtschaftsmetropole findet Geschmack an Anarchie. Im Konflikt um die Identität der Stadt erscheinen Dialog und Mäßigung immer undenkbarer.
tigt Demonstranten und macht uns jedes Wochenende nur noch wütender. Ich glaube, die Regierung will das so, damit sie den Ausnahmezustand verhängen und China um Truppen bitten kann“, sagt Te.
Handschellen, Prügel, erste Berichte über sexuelle Übergriffe auf Demonstrantinnen, all das bezeichnet die Studentin als „weißen Terror“. Einen Tag vor dem illegalen Marsch wurden Anführer der Protestbewegung von 2014 wie Joshua Wong verhaftet. Er darf nun keine Interviews mehr geben. Auch das ist für Te der weiße Terror. Warum sich der Begriff unter Hongkongs Protestierenden eingebürgert hat, obwohl die Volksrepublik China, eine rote Flagge hat, kann sie nicht erklären. Aber der weiße Terror sei der Grund, warum auf den Märschen Schwarz getragen wird. Wer der 25-Jährigen zuhört, begreift, dass sich in Hongkong das Farbspektrum auf den schärfsten Kontrast verengt hat.
Anders als 2014 duldet die Bewegung keine Anführer. Sie organisiert sich in Chatrooms, nutzt das Internet, um den Gegner auszuspionieren. Steckbriefe von Polizisten kursieren im Netz.
Dass viele Hongkonger Gewalt anders als 2014 duldeten, erklärt Te damit, dass die Regierung die Millionenmärsche zu Beginn der Proteste ignoriert habe. Erst nach den ersten Ausschreitungen habe Regierungschefin Carrie Lam das Auslieferungsgesetz auf Eis gelegt. Von der Novelle fürchten viele, dass Hongkonger Bürger künftig mit einem Bein in chinesischen Gefängnissen stehen. Die angehende Juristin findet, dass nur Demokratien ein Monopol auf Gewalt zustünde. Bürgern stünde ein Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung zu. Freie Wahlen ohne Auswahl der Kandidaten durch Peking, nichts weniger sei akzeptabel, betont die Studentin. Te spricht, als könnte Carrie Lam morgen freie Wahlen ausrufen. Als wären Lams Hände nicht gebunden durch Chinas rote Linien: Der Führungsanspruch der KP und die territoriale Integrität der Volksrepublik. „Entweder sie hören uns zu, oder sie töten uns, das hat sie auch gesagt.“
Der 17-jährige Desmond Lau ist einer der Krieger, in denen Angie Te die Speerspitze der Demokratiebewegung sieht. Oder er ist es fast. Lau steht zwar an der Front. Er vermeide es aber, Straftaten zu begehen, sagt er. Lau gibt Interviews und lässt sich fotografieren. Das ist ungewöhnlich für die „Frontliner“genannten Straßenkämpfer. Lau erklärt die Wut der Jugend in Hongkong mit immer schwierigeren Lebensverhältnissen. In einer Stadt, in denen Menschen viel Geld zahlen müssen, um wenige Quadratmeter anzumieten, gebe es keine Regierung, die Unzufriedene abwählen können für eine verfehlte Wohnpolitik. „Wir sind dazu erzogen worden, frei zu denken. Aber in unserer Stadt können wir nichts verändern“, sagt er. „Wir sind verzweifelt, weil wir nicht die Regierung haben können, die wir wollen. Und die Regierung ist verzweifelt, weil wir nicht so sind, wie sie uns haben will“, meint Lau.
Vielleicht liegt der Konflikt nicht nur darin begründet, wie Hongkong regiert wird. Die Idee einer Hongkonger Nation mit eigener Kultur vertreten Demonstranten, deren Eltern oft in den 60ern vor Maos Rotgardisten in das damals britische Hongkong geflüchtet sind. Porsch beschreibt die Hongkonger als Grenzgänger zwischen westlichen und chinesischen Werten. „Sie benutzen Facebook und das chinesische Wechat. Sie fühlen sich in der chinesischen Kultur verwurzelt, wollen sich aber nichts vorschreiben lassen. Ich glaube, sie wissen manchmal selbst nicht, was sie sind“, sagt er. Wenn es weiterhin nur Schwarz oder Weiß in Hongkong gibt, wird China diese Frage vielleicht schon in diesem Herbst endgültig beantworten.