Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Plötzlich staatenlos

Fast zwei Millionen Menschen in Indien sind faktisch zu illegalen Einwandere­rn erklärt worden. Grund ist ein neues Bürgerregi­ster.

- VON AGNES TANDLER

DISPUR Für Indien ist Mohammad Sanaullah in den Krieg gezogen. Seine Tapferkeit hat ihm eine Verdienstm­edaille des indischen Präsidente­n eingebrach­t. Doch nun ist der 52-jährige Veteran offiziell kein Inder mehr. Sein Name fehlt auf der neuen Staatsbürg­erliste, die der Bundesstaa­t Assam am 1. September veröffentl­icht hat. „Ich habe darauf gehofft, dass sich das noch in letzter Minuten ändern würde“, sagt Sanaullah, der 30 Jahre lang in der Armee diente, der „Hindustan Times“. Auch die Namen seiner drei Kinder finden sich nicht auf der Liste. Damit droht ihnen nun, als illegale Ausländer in ein Abschiebel­ager gesperrt zu werden.

„Ich bin und bleibe Inder“, sagt Sanaullah. Er will die Entscheidu­ng vor einem Gericht anfechten – eine Option, die nicht alle Betroffene­n haben. Vielen fehlt das Geld, die Zeit oder die Unterlagen, um beweisen zu können, dass sie indische Staatsbürg­er sind. Rund 1,9 Millionen Einwohner des nordöstlic­hen Bundesstaa­tes Assam finden sich nicht im neuen Staatsbürg­erregister mit 31,1 Millionen Namen. Sie haben damit praktisch keine Staatsbürg­erschaft mehr. Die Regierung hat ihnen 120 Tage Zeit eingeräumt, gegen die Entscheidu­ng Einspruch einzulegen.

Doch in der Praxis bedeutet dies herzlich wenig. Besonders armen Indern fehlen Geburtsurk­unden oder Schulzeugn­isse, mit denen sie beweisen könnten, dass sie und ihre Familien bereits vor 1971 in Assam ansässig waren.

„So viele echte indische Staatsbürg­er haben keine Papiere“, sagt ein Beamter im Dorf Hatisala im Bhramaputr­a-tal im Westen Assams. „Sie sind arm, und es ist wirklich nicht ihre Schuld.“Tausende Einwohner Assams versammelt­en sich kurz nach der Bekanntmac­hung der Liste, um ihre Namen auf dem Dokument zu suchen. In Apotheken, auf Märkten und Printshops hatten Angestellt­e ihre Laptops zur Verfügung gestellt. Die Stimmung war angespannt. „Von uns acht Geschwiste­rn sind zwei nicht auf der Liste“, erzählt Akram Hussain. Seine beiden älteren Schwestern seien Analphabet­innen. „Sie sind nie zur Schule gegangen und haben kein Abschlussz­eugnis. Wir sind hundertpro­zentig Inder“, beteuert er.

Manche sind nicht auf der Liste, weil der Vorname des Vaters in einer alten Wählerlist­e anders geschriebe­n wurde. Andere wiederum haben nicht einmal eine Idee, warum ihr Name fehlt. Auch Mohendra Das, ein Tagelöhner, ist nicht auf der Liste zu finden. Er verdient 300 Rupien (umgerechne­t 3,80 Euro) pro Tag, manchmal auch weniger. Er trägt eine gelbe Plastiktas­che voller Papiere. Mehrmals ist er zu Anhörungen gegangen, um seine Identität zu klären. „Jedes Mal habe ich einen Tag Lohn verloren“, sagt er. Jetzt, da er ausgeschlo­ssen ist, weiß er nicht, was er tun soll. „Brauche ich diese Unterlagen jetzt überhaupt noch?“

Indiens Regierung sagt, die neue Liste solle dazu dienen, illegale Einwandere­r aus dem mehrheitli­ch muslimisch­en Nachbarlan­d Bangladesc­h zu identifizi­eren und zurückzusc­hicken. Assam teilt mit Bangladesc­h eine rund 260 Kilometer lange Grenze, die an vielen Stellen leicht zu überwinden ist. Um als Staatsbürg­er zu gelten, müssen die Einwohner Assams beweisen, dass sie oder ihre Familien bereits vor 1971, der Gründung Bangladesc­hs, in Assam gelebt haben. Assam hat nach Kaschmir den zweithöchs­ten Anteil von Muslimen in Indien. Gut 34 Prozent der Einwohner Assams sind muslimisch, 62 Prozent sind Hindus.

Kritiker sehen einen Vorstoß der indischen Regierung, das Land zu hinduisier­en – zulasten der religiösen Minderheit­en. Indiens einflussre­icher Innenminis­ter Amit Shah fordert seit Langem, ein solches Staatsbürg­er schafts register wie in Assam für ganz Indien zu erstellen.

Der Bundesstaa­t Ass am hat immer wieder Einw an derungsw ellen erlebt. Im 19. Jahrhunder­t brachten die Briten Arbeitskrä­fte aus Zentralind­ien für ihre Teegärten nach Assam. Nach der Unabhängig­keit Indiens kamen Hindus und Muslime aus Bengalen. Und in den Wirren des Unabhängig­keitskrieg­s in Bangladesc­h 1971 flohen rund zehn Millionen Menschen nach Assam. Die massive Einwanderu­ng führte zu gewaltsame­n Protesten.

Das neue Staatsbürg­erregister schließt alle aus, die nach 1971 nach Assam gekommen sind. Doch die nun zu illegalen Ausländern erklärten Inder können auch nicht einfach über die Grenze nach Bangladesc­h deportiert werden. Denn Bangladesc­h sieht den Großteil dieser Einwohner als Inder an. Nur die wenigsten haben Papier aus Bangladesc­h oder sind im Nachbarlan­d geboren. Ihr Schicksal in Indien ist unklar.

Damit wächst das Elend der Staatenlos­en in Südasien: Bereits jetzt gibt es 1,3 Millionen Rohingya-flüchtling­e in Bangladesc­h, rund 800.0000 Menschen in Nepal ohne Staatsbürg­erschaft und 100.000 nepalesisc­hen Flüchtling­e, die Bhutan deportiert hat, die aber von Nepal nicht als Bürger anerkennt werden.

Der Region Assam drohe nun eine humanitäre Katastroph­e, warnte die Gesellscha­ft für bedrohte Völker. Nach Angaben der Organisati­on sind bereits sechs Internieru­ngslager eingericht­et worden. Der Chef des Un-flüchtling­shilfswerk­s UNHCR, Filippo Grandi, mahnte die indische Verwaltung, für ausreichen­den Zugang zu Informatio­nen, Rechtshilf­e und Gerichten zu sorgen.

„So viele echte indische Staatsbürg­er haben keine Papiere. Sie sind arm, und es ist wirklich nicht ihre Schuld.“

Indischer Beamter im Bhramaputr­a-tal

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FOTO: AP Eine muslimisch­e Frau sucht nach Namen in der endgültige­n Liste des National Register of Citizens (NRC).

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