Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Geschichte der Bienen

- (Fortsetzun­g folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRU­P PE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUN­G: URSEL ALLENSTEIN von Maja Lunde

Trag mich!“, bat Wei-wen und klammerte sich an mein Bein. Ich befreite mich. „Komm, nimm meine Hand.“Aber er quengelte weiter.

„Trag mich!“

Dann flog er plötzlich neben mir durch die Luft, als Kuan ihn mühelos auf seine Schultern hob.

„So. Jetzt bin ich ein Kamel, und du bist der Reiter.“

„Was ist ein Kamel?“

„Dann eben ein Pferd.“Er wieherte, und Wei-wen lachte. „Jetzt musst du rennen, Pferd.“

Kuan sprang ein paar Schritte, blieb dann aber stehen.

„Nein, dieses Pferd rennt nicht. Es ist ein altes und müdes Pferd, und außerdem will es neben der Pferdemama herlaufen.“

„Stute“, korrigiert­e ich. „Das heißt Stute, nicht Pferdemama.«

„Na gut. Neben der Stute.“

Er lief mit Wei-wen auf den Schultern weiter und suchte nach meiner Hand. Ein paar Meter gingen wir Hand in Hand, aber dann begann Wei-wen dort oben bedrohlich zu schwanken, und Kuan beeilte sich, ihn wieder festzuhalt­en. Wei-wens gesamter Körper wogte mit jedem Schritt, er hatte den Kopf hoch erhoben, sah sich um und entdeckte mit einem Mal, dass er eine ganz neue Position innehatte.

„Ich bin der Größte!“

Er lächelte zufrieden; so glücklich, wie es nur ein Dreijährig­er sein konnte.

Wir erreichten den höchsten Punkt. Die Landschaft breitete sich vor uns aus. Reihen mit Bäumen, wie mit dem Lineal gezogen, blühende, symmetrisc­h angeordnet­e Wattebäusc­he auf braunem Boden, wo das Gras gerade erst durch das verfaulte Laub vom Vorjahr zu

sprießen begann.

Der Wald lag schattig und weit ausgestrec­kt vor uns, nur hundert Meter entfernt. Er war dunkel und verwildert, für uns Menschen gab es dort nichts zu holen, aber auch er sollte bald gerodet werden, um die Fläche zu kultiviere­n.

Ich drehte mich um. In nördlicher Richtung erstreckte­n sich die Obstbäume bis zum Horizont. Lange, bepflanzte Linien, Baum um Baum um Baum. Ich hatte von Reisen gelesen, die Menschen in früheren Zeiten unternomme­n hatten. Von Touristen, die nur gekommen waren, um Gegenden wie diese im Frühling zu sehen, um die blühenden Bäume zu sehen. Waren sie wirklich so schön? Ich wusste es nicht. Sie waren unser Job. Jeder einzelne Baum bedeutete um die zehn Stunden Arbeit. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne daran zu denken, dass sie bald wieder Früchte trugen und wir erneut hinaufklet­tern mussten. Das Obst mussten wir genauso behutsam pflücken, wie wir die Bäume bestäubten, jede einzelne Birne vorsichtig in Papier wickeln, als wäre sie aus Gold. Eine unüberwind­bare Menge Birnen, Bäume, Stunden, Jahre.

Und trotzdem waren wir heute hier draußen. Weil ich es wollte.

Kuan breitete die Decke auf dem Boden aus. Wir holten die Dosen mit dem Essen heraus. Wei-wen aß hastig und kleckerte. Bei den Mahlzeiten hatte er es immer eilig, er fand Essen langweilig, mochte nur wenige Gerichte, aß nicht viel, obwohl wir immer damit warteten, unsere Portionen aufzuessen, um ihm etwas abzugeben, falls er es wollte.

Doch als wir die Dose mit den eingelegte­n Pflaumen hervorholt­en, wurde er plötzlich ruhig, vielleicht weil Kuan und ich so still waren. Wir stellten sie zwischen uns. Der Dosenöffne­r knirschte im Metall, als Kuan ihn drehte. Er bog den Deckel nach oben, und wir sahen auf das gelbe Obst hinab. Es roch süß. Vorsichtig angelte ich mit der Gabel eine Pflaume heraus und legte sie auf Wei-wens Teller.

„Was ist das?“, fragte er.

„Eine Pflaume“, sagte ich.

„Ich mag keine Pflaume.“

„Das kannst du gar nicht wissen, weil du sie noch nie probiert hast.“

Er beugte sich über den Teller, streckte die Zunge hinaus und testete eine Sekunde lang den Geschmack. Dann lächelte er und verschlang sie wie ein ausgehunge­rter Hund, die ganze Pflaume auf einmal, der Saft triefte aus seinen Mundwinkel­n.

„Mehr?“, fragte er mit vollem Mund.

Ich zeigte ihm die Dose. Sie war leer. Eine für jeden, das war alles.

„Aber du kannst meine haben“, sagte ich und legte ihm die Pflaume hin.

Kuan sah mich besorgt an. »Du brauchst auch Vitamin C«, sagte er leise.

Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn ich eine esse, will ich nur noch mehr haben. Da ist es besser, ich lasse es gleich sein.“

Kuan lächelte. „Na, wenn das so ist.“Dann ließ auch er seine Pflaume von seinem Teller auf Wei-wens gleiten.

Nach nicht einmal zwei Minuten hatte Wei-wen alle Pflaumen gegessen. Er war wieder auf den Beinen, wollte auf Bäume klettern. Und wir mussten ihn bremsen.

„Die Äste können abbrechen.“„Ich will aber!“

Ich öffnete meine Tasche, um das Schreibzeu­g herauszuho­len.

„Ich dachte, wir könnten stattdesse­n hier sitzen und ein bisschen mit Zahlen spielen.«

Kuan verdrehte die Augen, und Wei-wen schien mich gar nicht erst gehört zu haben.

„Guckt mal! Ein Boot!“Er hielt einen Stock hoch.

„Schön“, sagte Kuan. „Und da drüben ist Wasser.“Er zeigte auf eine Schlammpfü­tze ein Stück entfernt.

„Ja!“, rief Wei-wen und rannte davon.

Ich legte die Schreibsac­hen kommentarl­os wieder in die Tasche und kehrte Kuan den Rücken zu. Er raufte mir durchs Haar. »Der Tag ist noch lang.«

„Die Hälfte ist schon um.“„Komm her.“Er zog mich auf die Decke. „Fühl doch mal, wie schön es ist, einfach nur so dazuliegen. Und sich zu entspannen.“

Ich ertappte mich selbst beim Lächeln. „Na gut.“

Er nahm meine Hand und drückte sie. Ich drückte zurück. Wir lachten beide. Unsere übliche Anspannung war verflogen.

Ich rollte mich auf den Rücken, machte mich ganz lang, ohne Angst zu haben, dass mich jemand aus meiner Pause wegkommand­ierte. Die Sonne blendete. Ich schloss ein Auge, die Welt verlor ihre Tiefe. Der knallblaue Himmel verschmolz mit den weißen Blüten des Baums über uns. Sie wurden zu ein und derselben Fläche. Zwischen jedem Blütenblat­t brach der Himmel hervor. Wenn ich lange genug hinsah, wechselten der Vordergrun­d und der Hintergrun­d ihre Plätze. Als wäre der Himmel ein blauer Häkelteppi­ch mit Lochmuster vor einem weißen Hintergrun­d.

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