Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Lernen mit Bildern und Wortkarten
An der Grundschule, an der Frauke Heinemann unterrichtet, spricht ein Drittel der Erstklässler kaum Deutsch zu Hause. Von der Zurückstellung von Kindern, die kaum die deutsche Sprache sprechen können, hält sie aber nichts.
MÖNCHENGLADBACH Die Erich Kästner-grundschule im Mönchengladbacher Stadtteil Geneicken ist in einem hübschen Altbau untergebracht. Der Schulhof ist weitläufig, es gibt eine kleine Bibliothek. Derzeit besuchen 216 Schüler die Schule, 80 Prozent haben Migrationshintergrund. Mehr als ein Drittel der Erstklässler spricht im Elternhaus eine andere Sprache als Deutsch – etwa Arabisch, Bulgarisch, Polnisch oder Türkisch. Für Frauke Heinemann, 31, die seit mehr als drei Jahren an der Schule unterrichtet, ist das zwar eine Herausforderung – aber keine, der sie sich nicht gerne stellt. Von einer Zurückstellung von Kindern, die zur Einschulung kaum oder gar kein Deutsch sprechen, hält sie nichts: „Man kann doch nicht sagen ,Inklusion von Anfang an’, aber Integration nicht.“
Cdu-fraktionsvize Carsten Linnemann hat das ins Gespräch gebracht. „Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“, hatte er unserer Redaktion gesagt. Er forderte eine Vorschulpflicht – und notfalls die Zurückstellung der Kinder um ein Jahr. Eine Idee, die die pensionierte Grundschullehrerin Ruth Hennen nicht überzeugt. 42 Jahre hat die Mönchengladbacherin an Grundschulen gearbeitet, erst als Lehrerin, dann als Schulleiterin in Grevenbroich. „Man nimmt Kindern damit ein ganzes Jahr und gibt ihnen das Gefühl, ausgesondert zu werden, bevor es überhaupt los geht – ich denke nicht, dass das für ihre Lernbiografie förderlich ist“, sagt die 65-Jährige. Ähnlich sieht das Frauke Heinemann: „Die Kinder vom täglichen Erleben der deutschen Sprache im Unterrichtsalltag auszuschließen, fördert kaum ihren Spracherwerb.“
Mädchen und Jungen mit sprachlichen Schwierigkeiten stammen Hennen zufolge überdies auch aus deutschsprachigen Elternhäusern. Sie führt das auf eine veränderte Lebensweise zurück. „In vielen Familien wird heute nicht mehr so intensiv gesprochen. Computer, Smartphones und Tablets sind zudem keine Mittel, die Kinder dazu anregen, zu kommunizieren. Das macht sich bemerkbar.“Es sei aber möglich, schon deutlich vor der Einschulung etwaige Sprachprobleme festzustellen – und etwas dagegen zu tun: „Diese Kinder können dann von November bis in die nächsten Sommerferien hinein gezielt gefördert werden.“Entsprechende Sprachkurse habe es vor einigen Jahren noch gegeben, angedockt an die Grundschulen, zwei Mal die Woche. „Das war ein sehr gutes Modell“, sagt Hennen.
Inzwischen überprüfen in der Regel die Kindertagesstätten in NRW die sprachliche Entwicklung mit einer Sprachstandserhebung. Kinder, die keinen Kindergarten besuchen, nehmen zwei Jahre vor der Einschulung am Testverfahren „Delfin 4“teil. Werden Sprachdefizite festgestellt, wird Eltern empfohlen, das Kind an einer Tagesstätte anzumelden – oder es an einer vorschulischen Sprachfördermaßnahme teilnehmen zu lassen. Hennen zufolge haben die Kindergärten aber oft gar nicht das Personal, um die Kinder sprachlich zusätzlich zu fördern. An der Erich Kästner-schule werden zudem auch Kinder im Alter zwischen sieben und zehn Jahren angenommen, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind und keinen deutschen oder gar keinen Kindergarten besuchen konnten.
Die Arbeit mit Schülern, sagt Frauke Heinemann, beinhaltet deshalb viel mehr als die Lehrplaninhalte wie Lesen, Schreiben oder Rechnen. Soziale Kompetenzen würden vermittelt, Lernmotivation und die Bereitschaft, sich auf eine neue Gemeinschaft einzulassen. Ruth Hennen bestätigt das: Grundschullehrer müssten für viele Kinder unterschiedliche Programme stricken. Das heißt nicht, dass sie das einzelne Kind weniger im Blick haben, aber es ist sehr viel aufwendiger.“Für sie wäre es wünschenswert, dass Kinder mit gleichen Voraussetzungen in die Schule starten. Denn mit der Einschulung beginne ein neuer Lebensabschnitt – mit neuen Erfahrungen an einem unbekannten Ort, neuen Bezugspersonen, einem neuen Tagesablauf. „Sprache ist da ein Baustein von vielen“, sagt Frauke Heinemann.
Im Unterricht fängt sie Sprachprobleme etwa mit Piktogrammen oder Wortkarten auf. Dabei gehe es weniger um die reine Erweiterung des Wortschatzes, sondern vielmehr um den Kontext. „In allen Klassen wird mit unverwechselbaren Zeichen und Bildern gearbeitet“, sagt Heinemann. Auf einer Regelkarte etwa sind zwei Kinder zu sehen, die sich den Finger auf den Mund legen – „leise sein“bedeutet das. Für die Bearbeitung einer Aufgabe sind auf einer anderen Karte zwei Menschen abgebildet, die an einem Tisch sitzen, über ihnen sind Sprechblasen zu sehen. „Das steht für ein Gespräch mit einem Partner“, sagt die 31-Jährige. Auch auf eigens erstellten Arbeitsblättern und Gesprächseinladungen für nicht deutschsprachige Eltern druckt sie Bilder, die die Situation darstellen, um die es geht.
Derzeit betreut Heinemann eine vierte Klasse als Klassenlehrerin, die sie schon seit der Einschulung kennt. Sie hat Deutsch und katholische Religion studiert, dazu
Deutsch als Zweitsprache. Aus dieser Zeit kennt sie noch den Begriff „Nullsprachler“für Kinder ohne Deutschkenntnisse. Dieser komme mittlerweile „aber zum Glück“geradezu einer Beleidigung gleich – „schließlich sprechen diese Kinder ja oft mehr als eine Sprache und sind oft schon in ihrer Herkunftssprache alphabetisiert“. Das helfe vielen auch beim Deutschlernen. Sie werden an der Erich Kästner-schule Seiteneinsteiger genannt. Vier Stunden pro Woche bekommen sie Sprachunterricht, ansonsten nehmen sie am regulären Unterricht teil und sind in die Klassengemeinschaft integriert. „Gerade in Mathematik, Kunst, Musik und Sport zeigen sie oft gute Leistungen“, sagt Heinemann. Wenn zwei Lehrkräfte in der Klasse tätig sind, können Kinder mit Förderbedarf zudem eine Eins-zuEins-betreuung kommen – das sei enorm hilfreich, wegen der dünnen Personaldecke aber oft nicht möglich. Mehr Lehrkräfte für die Grundschulen mit sehr heterogenen Lerngruppen sei deutlich sinnvoller als die Zurückstellung einzelner Kinder, sagt Heinemann.
Im regulären Unterricht werden die Seiteneinsteiger zunächst nicht benotet, dürfen zum Beispiel Arbeitsblätter auch in ihrer Herkunftssprache ausfüllen. „Hauptsache, sie machen mit“, sagt Heinemann, „schließlich ist es Aufgabe einer Lehrkraft, jedem Schüler die Teilnahme am Fach zu ermöglichen.“Auf dem Zeugnis dieser Kinder werden dann unter anderem Arbeitsund Sozialverhalten bewertet.
Zudem verstünden viele Kinder viel früher Deutsch, als dass sie sich trauten zu sprechen. „Sie orientieren sich an Mitschülern, imitieren und verstehen vieles auch ohne Worte“, sagt Heinemann. Die Vielfalt in ihrem Klassenraum sei eine große Bereicherung. „Hier passiert jeden Tag etwas Eindrucksvolles im Lernen der Kinder“, sagt sie, „oft würde ich das Unterrichtsgeschehen Erwachsenen und Politikern gerne einfach einmal zeigen.“
„Es ist Aufgabe einer Lehrkraft, jedem Schüler die Teilnahme am Fach zu ermöglichen“Frauke Heinemann Lehrerin