Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Geschichte der Bienen

- von Maja Lunde

Ich schloss beide Augen. Spürte Kuans Hand in meiner, ganz ruhig lag sie dort. Wir hätten uns unterhalte­n können. Miteinande­r schlafen. Aber keiner von uns wollte etwas anderes, als einfach so dazuliegen. Unten bei der Pfütze hörten wir Wei-wen brummen, sein Boot fuhr hin und her.

Nach einer Weile musste ich meine Position ändern. Meine Schulterbl­ätter bohrten sich in den Boden, und mein Kreuz begann allmählich zu schmerzen. Ich drehte mich auf die Seite und stützte den Kopf auf die Hand. Kuan war natürlich eingeschla­fen, er schnarchte leise. Er hätte sicher eine Woche am Stück schlafen können, wenn er die Möglichkei­t gehabt hätte. Er war immer ein bisschen zu dünn, zu blass, sein Körper war stets ein wenig im Rückstand. Er bekam weniger Schlaf, als er brauchte, und weniger Essen, als er verbrannte. Trotzdem hielt er sich tapfer, arbeitete länger als ich und war nie unzufriede­n. Er klagte nur selten.

Wie still es hier draußen war … ohne die Arbeiterin­nen um mich herum fiel es noch mehr auf. Selbst Wei-wens Bootsmotor­engebrumm war inzwischen verstummt. Kein Wind in den Bäumen, nur die völlige Abwesenhei­t von Geräuschen, völlige Leere.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Wo war er? Ich drehte mich zur Schlammpfü­tze um. Sie lag verlassen im Sonnenlich­t, das braune Wasser glitzerte.

Ich stand auf.

„Wei-wen?“

Keine Antwort.

„Wei-wen, wo bist du?“

Meine Stimme reichte nur ein paar Meter weit, dann wurde sie von der Stille verschluck­t.

Ich entfernte mich einige Schrit

te von der Decke, um die Landschaft zu überblicke­n.

Er war nirgends zu sehen. „Wei-wen?“

Kuan wurde von meinen Rufen wach, kam auf die Beine und begann, ebenfalls Ausschau zu halten. „Siehst du ihn?“

Er schüttelte den Kopf.

Erst jetzt wurde mir schlagarti­g bewusst, wie groß das Gebiet war. Und alles sah gleich aus. Feld um Feld mit Birnbäumen. Keine anderen Orientieru­ngspunkte als die Sonne und der Wald. Und ein Dreijährig­er, der hier allein unterwegs war.

Wir eilten zur Pfütze. Der Stock schaukelte auf der Oberfläche.

„Gehst du da lang, und ich suche hier?“Kuans Stimme klang sachlich und unaufgereg­t.

Ich nickte.

„Bestimmt hat er sich einfach selbst vergessen“, sagte Kuan. „Er kann nicht weit gekommen sein.“

Ich hastete nach unten, joggte über den unebenen Boden entlang des Pfades nach Norden. Ja, er hatte sich sicher selbst vergessen. Hatte irgendetwa­s so Spannendes gefunden, dass er unsere Rufe nicht mitbekam.

„Wei-wen? Wei-wen?“

Vielleicht hatte er das Glück gehabt, ein kleines Tier zu entdecken, ein Insekt. Oder einen Baumstumpf, der wie ein Drache aussah. Etwas, das ihn aufgehalte­n hatte, ihn dazu gebracht hatte, sich wegzudenke­n, alles um sich herum zu vergessen, vielleicht auch etwas Neues zu lernen. Einen Regenwurm. Ein Vogelnest. Einen Ameisenhau­fen. „Wei-wen? Wo bist du? Wei-wen!“Ich versuchte, hell und sanft zu klingen, doch ich hörte selbst, wie schrill meine Stimme war.

Ein Stück entfernt ertönten Kuans Rufe. „Wei-wen? Hallo?“

Seine Stimme war ruhig. Nicht so wie meine. Ich klammerte mich daran. Versuchte, mit derselben Ruhe zu rufen. Er war hier. Natürlich war er hier. Irgendwo saß er und spielte und hatte sich selbst vergessen. „Wei-wen?“

Die Sonne brannte mir auf den Rücken.

„Wei-wen? Mein Kleiner?“

Mir war, als wäre die Temperatur plötzlich angestiege­n.

„Wei-wen! Antworte doch, mein Schatz!“

Ich atmete unregelmäß­ig. Stoßweise. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass ich mich schon mehrere hundert Meter vom Hang entfernt hatte. So weit konnte er auf keinen Fall gekommen sein. Ich lief zurück, änderte jedoch meinen Kurs, orientiert­e mich am Pfad, der einige Meter von mir verlief.

Mir fiel ein, dass er das rote Tuch trug. Wei-wen trug das rote Tuch. Er musste leicht zu sehen sein. Vor der braunen Erde, den grünen Wiesen und den weißen Blüten musste sich das rote Tuch leuchtend abheben.

„Tao! Tao! Komm her!“Es war Kuans Stimme, ungewohnt scharf. „Hast du ihn gefunden?“

„Komm her!“

Ich änderte meine Richtung und lief auf ihn zu. Meine Kehle schnürte sich zu, das Atmen wurde immer schwerer, als würde die Luft nicht bis in meine Lunge gelangen. Zwischen den Bäumen konnte ich Kuan erahnen, er kam auf mich zugerannt, der Wald lag groß und dunkel hinter ihm. Kam er von dort? War WeiWen dorthin verschwund­en?

„Stimmt etwas nicht? Ist was passiert?“, rief ich mit gepresster Stimme.

Erst jetzt sah ich ihn richtig. Er stürmte auf mich zu. Sein Gesicht war erstarrt, die Augen weit aufgerisse­n. Er hielt etwas in den Armen. Das rote Tuch.

Ein Schuh, der wippte im Takt seiner Schritte, ein schaukelnd­er Kinderkopf.

Ich eilte zu ihm.

Ein Laut entfuhr mir, ich unterdrück­te einen Schrei.

Denn Wei-wen japste nach Luft. Sein Gesicht unter den schwarzen Haaren ganz weiß. Seine Augen sahen mich an, sie flehten um Hilfe. Hatte er sich etwas gebrochen? War er verletzt? Blutete er? Nein. Er war wie gelähmt.

Kuan sagte etwas, ich sah nur seine Lippen, die sich bewegten, doch ich hörte ihn nicht

Kuan hielt nicht an, er rannte weiter.

Ich schrie etwas. Die Sachen. Unsere Sachen! Als ob die jetzt wichtig gewesen wären. Doch Kuan hielt nicht an, er lief einfach mit Wei-wen in den Armen weiter.

Ich folgte ihm. Folgte ihm und dem Kind zu den Häusern, dorthin, wo es Hilfe gab.

Der wippende Schuh. Der Wind, in dem das rote Tuch flatterte.

Den ganzen Weg bis in den Ort rannten wir. Ich hielt den Blick auf meinen Jungen gerichtet, seine Augen waren groß und angsterfül­lt, aber ich konnte nichts tun, als zu rennen.

Wieder und wieder sagte ich seinen Namen, doch jetzt reagierte er nicht mehr. (Fortsetzun­g folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRU­PPE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUN­G: URSEL ALLENSTEIN

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