Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Generation Ellenbogen
ANALYSE Eine neue Studie zeigt: Die wirtschaftliche Lage der 30- bis 59-Jährigen in Deutschland ist gut. Ihr Blick auf die Gesellschaft schlecht. Das ist ein gewaltiges Problem. Und es könnte noch größer werden.
Der Wissenschaftsautor Bas Kast hat vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht. „Ich weiß nicht, was ich wollen soll“heißt es. Kast berichtet darin von mehreren Studien. Es geht um Oberklassewagen, die an Zebrastreifen seltener bremsen. Um Menschen, die schon der unterbewusste Gedanke an Dollar-scheine auseinanderrücken lässt. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Sobald Geld im Spiel ist, werden die Ellenbogen ausgefahren. Zwischenmenschliche Nähe und Hilfsbereitschaft nehmen ab, die Distanz nimmt zu. „Reichtum macht, wie es scheint, egoistisch und asozial“, schreibt Kast.
Das könnte auch die Erklärung sein für etwas, das Renate Köcher vom Allensbach-institut eine „seltsame Diskrepanz“nennt. Dort stellte Köcher am Donnerstag die Ergebnisse der neuen Studie „Generation Mitte“vor. Demzufolge beurteilen die 30- bis 59-Jährigen in Deutschland ihre wirtschaftliche Lage immer besser. Sie blicken aber auch immer kritischer auf die Gesellschaft, in der sie leben. Ein scheinbarer Widerspruch.
44 Prozent der Befragten sagen, dass es ihnen wirtschaftlich besser gehe als vor fünf Jahren. Nur 16 Prozent klagen über eine schlechtere ökonomische Lage. Es ist das höchste Ergebnis, das in sieben Jahren der Generations-studie gemessen wurde. Und es ist in diesem Jahr das einzige positive. Die restlichen Antworten beschreiben die Vision einer Gesellschaft Orwellschen Ausmaßes. 66 Prozent der mittleren Generation empfinden Deutschland als Ellenbogengesellschaft, im Osten sind es gar mehr als drei Viertel. 81 Prozent beobachten eine wachsende Aggressivität, 73 Prozent einen wachsenden Egoismus, 68 Prozent eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit. Den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschreiben nur ein Prozent der Teilnehmer als „sehr stark“, 17 Prozent als „eher stark“.
Die Befragten beschreiben ein gespaltenes Land – nach sozialer Schicht, nach Einkommen, nach Geschlecht. Auch die politische Einstellung wird immer bedeutsamer. 59 Prozent der 30- bis
59-Jährigen empfinden sie als Spaltungskriterium. In Ostdeutschland sind es sogar 67 Prozent. Folgt man der Studie, driften ganze Bevölkerungsschichten auseinander. Und die „Generation Mitte“ist nicht irgendeine Randgruppe. Sie stellt 70 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland und erwirtschaftet 80 Prozent der steuerpflichtigen Einkünfte. Wenn das die Stimmungslage der Leistungsträger einer Gesellschaft ist, steht das Land vor gewaltigen Problemen.
Kasts Erzählung von der asozialen Wohlstandsgesellschaft ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die „Generation Mitte“-studie beschreibt zwar ein Land voller Wohlstandsgewinner. Sie beschreibt aber auch ein Land, das Angst vor dem Abrutschen hat. Nur 24 Prozent der Befragten glauben, dass die deutsche Wirtschaft ihre „starke Position“in den nächsten Jahren verteidigen kann. Zudem glauben 44 Prozent, dass ihre finanzielle Absicherung im Alter nicht ausreichen wird. Bei denjenigen mit niedrigem sozioökonomischen Status sind es sogar zwei Drittel. Außerdem, auch das zeigt die Studie, wissen die wenigsten, wie hoch ihre Rente einmal sein wird. „Da ist überhaupt keine Vorstellung da, wie viel man denn investieren müsste“, sagt Köcher. Die Menschen wissen wenig über die Rente. Sie gehen aber davon aus, dass sie knapp wird. Also tun sie wenig für die Rente, und sie wird prompt knapp.
Das ist Teil des wahren Problems. Unzufriedene Wohlstandsbürger sind ein Ärgernis. Wenn sie auch wirtschaftlich abrutschen, werden sie erst zu einem wahren Sprengsatz für den Zusammenhalt. Vor allem dann, wenn sie den gesellschaftlichen Wandel für ihre Lage verantwortlich machen. In der Wissenschaft heißt das dann „relative Deprivation“. Es ist das Gefühl eines Mangels, einer sozialen Benachteiligung. Es gilt als Nährboden dafür, andere Gruppen abzuwerten, aber auch für Populismus und Rechtsextremismus. Es muss einen Schuldigen für die schlechte Situation geben.
Die Warnsignale hierfür sind vorhanden, wenn ein Großteil der 30- bis 59-Jährigen die soziale Schicht, die Herkunft und die politische Einstellung als trennendes Element ansieht. Was passiert, wenn eine Rezession kommt, lässt sich in den USA beobachten. Eben jene Enttäuschten waren es, die Donald Trump zum Präsidenten gewählt haben. Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in Stadt und Land, in Demokraten und Republikaner, war da bereits weit fortgeschritten.
Ähnliches lässt sich ebenso in Sachsen und Brandenburg beobachten. Dass die AFD dort bei den Landtagswahlen so punkten konnte, liegt auch an einem regionalen Benachteiligungsgefühl. Die Trennung zwischen Ost und West wird in der „Generation Mitte“-studie ebenso wie jene zwischen den einzelnen Regionen gerade von den Ostdeutschen deutlich stärker wahrgenommen.
Damit in Deutschland nicht irgendwann amerikanische Verhältnisse herrschen, gilt es also, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung seit einem Jahr mit der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“. Es geht hier in erster Linie um die regionalen Unterschiede. Reich gegen arm, Stadt gegen Land, Ost gegen West. Sichtbare Ergebnisse können helfen, dass sich die Gesellschaft nicht politisch weiter polarisiert.
Doch auch 2019 bleiben die soziale Schicht und die Einkommensgruppe die größten Trennfaktoren in der bundesdeutschen Gesellschaft. Der Mensch wird von der mittleren Generation noch immer vorrangig darüber definiert, was er gelernt hat, was er arbeitet und was er verdient. Um in dieser Gemengelage nach oben zu kommen, setzt er verstärkt seine Ellenbogen ein. Die Gesellschaft der Egoisten ist die Folge.
Schon 1982 war die „Ellenbogengesellschaft“das Wort des Jahres. Geändert hat sich seitdem nicht viel. Wenn es ums Geld geht, nehmen die zwischenmenschliche Nähe und die Hilfsbereitschaft ab, die Distanz zwischen den Gruppen nimmt zu. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden.
Werden die Gegensätze in unserer Gesellschaft stärker? Wenn Sie sich an der Diskussion beteiligen wollen, schicken Sie bitte Ihre Meinung bis Montag, 16. September, an aktionen@rheinische-post.de.