Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Ich bin ein dankbarer Mensch“
Lange war Günter Netzer eine öffentliche Person. Aber er hat sich zurückgezogen. Und es fehlt ihm nichts. Am Samstag wird er 75.
ZÜRICH Es hat ein bisschen gedauert. Aber mit 75 Jahren kann Günter Netzer nun endlich das Leben führen, das er für sein „Lieblingsleben“hält: „das faule Leben“. Von der langen Abwesenheit dieses Lieblingslebens hat er in seiner Biografie bewusst kokett geschrieben. Ganz sicher in dem Wissen, dass den Fußballer Netzer niemand für ein Laufwunder hielt und dass ihm selbst Mitspieler zumindest hinter vorgehaltener Hand nicht gerade den eifrigsten Arbeiter nannten. Dafür waren in Netzers Fußballkosmos andere zuständig, die Zulieferer für sein Genie.
Das konnte ihm keiner bestreiten. Er war auf dem Fußballplatz der Mann für die besonderen Dinge. Wenn er mit wehendem blonden Haar aus dem Mittelfeld den Ball führte und mit seinen langen Pässen den Mitspielern Räume eröffnete, die sie nicht einmal geahnt hatten, dann verzückte er das Publikum. Und seine Kollegen verziehen so manche Extrawurst, die ihm im Verein gebraten wurde.
Netzer war der erste richtige Fußballstar in diesem Land. Einer, der in den bunten Illustrierten ebenso selbstverständlich vorkam wie in den Sportzeitschriften. Sein Spiel trieb die Feindenker in den Kulturredaktionen der Zeitungen zu ausgiebigen Betrachtungen. Mit seinem Hang zu modischer Kleidung, zu schnellen Autos und einem vergleichsweise extravaganten Auftreten schien er den Zeitgeist der späten 1960er Jahre und den vermeintlichen Arbeitersport Fußball miteinander zu versöhnen. Unerhört. „Er hat dafür gesorgt, dass der Fußball ein Teil der Gesellschaft wurde“, sagt sein ehemaliger Nationalmannschaftskollege Paul Breitner. Das alles gelang Netzer im beschaulichen Mönchengladbach, das noch niemand mit einer Weltstadt verwechselt hat. Er hat den Sport durch sein besonderes Spiel verändert, und er hat den Blick auf den Sport verändert. Deshalb nannte ihn sein früher Biograf Helmut Böttiger „Rebell am Ball“.
Das aufregende Konterspiel der Mönchengladbacher Borussia, die sich in den 1970er Jahren die Meistertitel mit den Bayern teilten, hat Netzer mit seiner Ahnung für den Raum geprägt. Rebellisch fand er das nicht. Jugendlich vielleicht, unbändig wie die Fohlen, nach denen seine Mannschaft benannt wurde. Er war der Erfinder dieses Spiels. „Drei-, viermal im Jahr haben wir Fußball gespielt, wie es ihn auf der Welt kein zweites Mal gab“, schreibt er in seiner Autobiografie. Der gab er einen Titel, der ihm besser gefällt als der des Rebellen: „Aus der Tiefe des Raumes.“Dort verortete ihn das Feuilleton, und von dort schuf Netzer seine Rolle im Weltfußball.
Dazu gehörte schon früh ein sehr klarer Blick auf den Fußball und die eigene Bedeutung. Er wuchs in die Rolle der natürlichen Führungsfigur, auch wenn er von sich sagt: „Ich bin immer ein schüchterner, scheuer Mensch gewesen.“Es ist ihm gelungen, das zu überspielen, als Alpha tier derGladbac her Meister mannschaften, als kühler Analyst der Nationalmannschaft sauft ritte im Fernsehen, als erfolgreichster Managerin der Geschichte des Hamburger SV, der sich noch heute in den Erfolgen der Netzerzeit sonnt (was ein Grund für den tiefen Sturz ist), als Kolumnist mit klarer Sprache und großem Einfluss. Netzer wirkte immer als Autorität.
Bei seinen Mitspielern unvergessen sind die dauerhaften Debatten mit Trainer Hennes Weisweiler, dem es nie leicht fiel, mit den großen Führungsfiguren in seinen Mannschaften klarzukommen. Beim FC Barcelona scheiterte Weisweiler am großen Johan Cruyff, beim 1. FC Köln servierte er den Säulenheiligen Wolfgang Overath ab, um die eigene Macht zu sichern. In Gladbach raufte er sich mit seinem Star immer wieder zusammen. Das kostete allerdings gelegentlich große Mühe. Manchmal sprachen die beiden Sturköpfe wochenlang nicht miteinander. Netzers Kollege Berti Vogts wurde als reitender Bote eingesetzt. „Berti, sag dem Langen, dass morgen um zehn Uhr Training ist.“Netzer schickte Vogts mit der Botschaft zurück: „Sag dem Trainer, dass er das früher bekannt geben soll. Ich habe einen wichtigen geschäftlichen Termin.“
Weisweiler machte die Faust in der Tasche, weil er wusste, was er an Netzer hatte. Da war er wie die Kollegen aus der Mannschaft, die es ihm meist klaglos durchgehen ließen, wenn er eine Verletzung für ein paar Tage auf Gran Canaria auskurierte oder unter der Woche schnell mal zum Feiern nach München flog. Einmal gab es eine kleine Revolte, an die sich der ehemalige Torwart Wolfgang Kleff erinnert: „Aber das verlief im Sande, wir wussten, dass wir von seiner Fußballkunst profitierten.“Netzer beteuert: „Ich war immer nur am Erfolg orientiert.“Dass seine Gladbacher in den 1970ern zwar mehr Meisterschaften als die Münchner gewannen (vor seinem Wechsel zu Real Madrid feierte Netzer zwei von fünf mit), in den großen Spielen aber oft scheiterten, veranlasste den Biografen Böttiger zu der Feststellung: „Die Magie der Gladbacher rührt nicht vom Erfolg, sondern vom Scheitern.“Das würde Netzer bestreiten. Zumindest lag das nie in seiner Absicht, eine Art Spielleiter eines irgendwie tragischen Ensembles zu sein.
Trotzdem wirkte er meist ernst, manchmal ein bisschen gebeugt von der Last der Verantwortung. Es gibt eine Fernsehaufnahme von der Kabinenfeier nach dem ersten Meistertitel. Da geht Kapitän Netzer von Mann zu Mann, umarmt die Kameraden und schaut dabei wie einer, aus dem im Moment der Vollendung alle Kraft gewichen ist, sehr nachdenklich, sehr still.
Auch darum gilt er vielen als grüblerischer, fast schwermütiger Mensch. Gegen diesen Eindruck würde er sich zu Recht wehren. „Das ist nicht mein Naturell“, würde er sagen, wenn man ihm das vorhält. Sein Naturell enthüllt sich beispielsweise, wenn er über den aus gegenseitiger Verehrung entstandenen Dauerzwist mit Weisweiler spricht. Wenn er sich daran erinnert, wie der Trainer darauf reagierte, dass Netzer auf dem Höhepunkt seines Wirkens in Mönchengladbach die Discothek „Lovers Lane“betrieb. „Das ist das Ende“, stöhnte Weisweiler. Und während sich Netzer das Gesicht des verzweifelten Fußballlehrers vorstellt, muss er lachen. Es kommt plötzlich, es kommt von tief innen, das ganze Gesicht arbeitet mit, er zeigt große Zähne, und der Körper bebt vor Vergnügen. Es gluckert richtig. Darin steckt viel vom echten Netzer. Aber auch, dass er das Lachen immer schnell wieder einpackt in seine seriöse, kühle Miene, gehört zum echten Netzer. Man hat stets den Verdacht, dass er an diesem Wechselspiel großen Spaß hat.
Die Fußballwelt durfte sich davon lange ihr eigenes Bild machen, denn Netzer war ein öffentlicher Mensch. Daran hat er bewusst einiges geändert. „Ich schau schon noch Fußball“, erklärt er unserer Redaktion, „aber ich muss ihn nicht beurteilen. Das Fernsehen, die Kolumnen – das sind alles Dinge, die ich fast mit einem Schlag beendet habe. Das mache ich mit Konsequenz. Das ist mein Charakter. Es gibt da keine Halbheiten.“Er hat es abgehakt, und das scheint ihm nicht schwerzufallen. „Mir geht es gut“, beteuert er glaubwürdig, „ich bin ein dankbarer Mensch, ich hatte viel Glück in meinem Leben, ich habe eine großartige Familie, und ich bin froh, wie alles gekommen ist.“Natürlich denkt er schon mal an die alten Zeiten. „Aber ich stehe nicht morgens auf und sage: Was warst du für ein toller Kerl.“Mit dem Geschäft hat er seinen Frieden gemacht und abgeschlossen. „Ich bedauere die, die nicht loslassen können“, sagt Netzer.
Er genießt ganz sicher die neue Freiheit, die er weder als Fußballprofi noch als Manager, Tv-analyst oder Medienrechte-händler hatte. Und er betont: „Ich weiß, dass ich privilegiert bin.“Es ist ihm wichtig, dass man das versteht und ihn nicht als einen sieht, der sich nicht erinnert, woher er kommt. Das hat er nie vergessen, die Kindheit an der Gasthausstraße in der Mönchengladbacher Altstadt, den Lebensmittelladen der Mutter. Und den ersten Fußball. Der Ball und ein paar Bonbons aus dem Laden waren der Grund, weshalb der kleine Günter schon als Fünfjähriger bei den Großen mitspielen durfte. Bald brauchte er den Ball als Argument nicht mehr. Er wurde eine der größten Figuren des deutschen Fußballs.
Lange her, würde er sagen, und: „Ich schau nicht so oft in die Vergangenheit.“Das ist vielleicht ein bisschen geschwindelt. Dass ihm sein Geburtstag keine Angst macht, kann man aber glauben. „Man wächst da so rein, die Zahl 75 verursacht mir keine Panik“, versichert er, „ich bin äußerst zufrieden.“Das klingt auch so.
Man muss sich Günter Netzer als sehr entspannten Herrn in seinem Haus in Zürich vorstellen. „Mir fehlt nichts“, sagt er, „und Langeweile kommt nicht auf.“Es ist eben das schöne, das faule Leben, von dem er immer geträumt hat. Das Lieblingsleben.