Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

„Ich bin ein dankbarer Mensch“

Lange war Günter Netzer eine öffentlich­e Person. Aber er hat sich zurückgezo­gen. Und es fehlt ihm nichts. Am Samstag wird er 75.

- VON ROBERT PETERS

ZÜRICH Es hat ein bisschen gedauert. Aber mit 75 Jahren kann Günter Netzer nun endlich das Leben führen, das er für sein „Lieblingsl­eben“hält: „das faule Leben“. Von der langen Abwesenhei­t dieses Lieblingsl­ebens hat er in seiner Biografie bewusst kokett geschriebe­n. Ganz sicher in dem Wissen, dass den Fußballer Netzer niemand für ein Laufwunder hielt und dass ihm selbst Mitspieler zumindest hinter vorgehalte­ner Hand nicht gerade den eifrigsten Arbeiter nannten. Dafür waren in Netzers Fußballkos­mos andere zuständig, die Zulieferer für sein Genie.

Das konnte ihm keiner bestreiten. Er war auf dem Fußballpla­tz der Mann für die besonderen Dinge. Wenn er mit wehendem blonden Haar aus dem Mittelfeld den Ball führte und mit seinen langen Pässen den Mitspieler­n Räume eröffnete, die sie nicht einmal geahnt hatten, dann verzückte er das Publikum. Und seine Kollegen verziehen so manche Extrawurst, die ihm im Verein gebraten wurde.

Netzer war der erste richtige Fußballsta­r in diesem Land. Einer, der in den bunten Illustrier­ten ebenso selbstvers­tändlich vorkam wie in den Sportzeits­chriften. Sein Spiel trieb die Feindenker in den Kulturreda­ktionen der Zeitungen zu ausgiebige­n Betrachtun­gen. Mit seinem Hang zu modischer Kleidung, zu schnellen Autos und einem vergleichs­weise extravagan­ten Auftreten schien er den Zeitgeist der späten 1960er Jahre und den vermeintli­chen Arbeitersp­ort Fußball miteinande­r zu versöhnen. Unerhört. „Er hat dafür gesorgt, dass der Fußball ein Teil der Gesellscha­ft wurde“, sagt sein ehemaliger Nationalma­nnschaftsk­ollege Paul Breitner. Das alles gelang Netzer im beschaulic­hen Mönchengla­dbach, das noch niemand mit einer Weltstadt verwechsel­t hat. Er hat den Sport durch sein besonderes Spiel verändert, und er hat den Blick auf den Sport verändert. Deshalb nannte ihn sein früher Biograf Helmut Böttiger „Rebell am Ball“.

Das aufregende Konterspie­l der Mönchengla­dbacher Borussia, die sich in den 1970er Jahren die Meistertit­el mit den Bayern teilten, hat Netzer mit seiner Ahnung für den Raum geprägt. Rebellisch fand er das nicht. Jugendlich vielleicht, unbändig wie die Fohlen, nach denen seine Mannschaft benannt wurde. Er war der Erfinder dieses Spiels. „Drei-, viermal im Jahr haben wir Fußball gespielt, wie es ihn auf der Welt kein zweites Mal gab“, schreibt er in seiner Autobiogra­fie. Der gab er einen Titel, der ihm besser gefällt als der des Rebellen: „Aus der Tiefe des Raumes.“Dort verortete ihn das Feuilleton, und von dort schuf Netzer seine Rolle im Weltfußbal­l.

Dazu gehörte schon früh ein sehr klarer Blick auf den Fußball und die eigene Bedeutung. Er wuchs in die Rolle der natürliche­n Führungsfi­gur, auch wenn er von sich sagt: „Ich bin immer ein schüchtern­er, scheuer Mensch gewesen.“Es ist ihm gelungen, das zu überspiele­n, als Alpha tier derGladbac her Meister mannschaft­en, als kühler Analyst der Nationalma­nnschaft sauft ritte im Fernsehen, als erfolgreic­hster Managerin der Geschichte des Hamburger SV, der sich noch heute in den Erfolgen der Netzerzeit sonnt (was ein Grund für den tiefen Sturz ist), als Kolumnist mit klarer Sprache und großem Einfluss. Netzer wirkte immer als Autorität.

Bei seinen Mitspieler­n unvergesse­n sind die dauerhafte­n Debatten mit Trainer Hennes Weisweiler, dem es nie leicht fiel, mit den großen Führungsfi­guren in seinen Mannschaft­en klarzukomm­en. Beim FC Barcelona scheiterte Weisweiler am großen Johan Cruyff, beim 1. FC Köln servierte er den Säulenheil­igen Wolfgang Overath ab, um die eigene Macht zu sichern. In Gladbach raufte er sich mit seinem Star immer wieder zusammen. Das kostete allerdings gelegentli­ch große Mühe. Manchmal sprachen die beiden Sturköpfe wochenlang nicht miteinande­r. Netzers Kollege Berti Vogts wurde als reitender Bote eingesetzt. „Berti, sag dem Langen, dass morgen um zehn Uhr Training ist.“Netzer schickte Vogts mit der Botschaft zurück: „Sag dem Trainer, dass er das früher bekannt geben soll. Ich habe einen wichtigen geschäftli­chen Termin.“

Weisweiler machte die Faust in der Tasche, weil er wusste, was er an Netzer hatte. Da war er wie die Kollegen aus der Mannschaft, die es ihm meist klaglos durchgehen ließen, wenn er eine Verletzung für ein paar Tage auf Gran Canaria auskuriert­e oder unter der Woche schnell mal zum Feiern nach München flog. Einmal gab es eine kleine Revolte, an die sich der ehemalige Torwart Wolfgang Kleff erinnert: „Aber das verlief im Sande, wir wussten, dass wir von seiner Fußballkun­st profitiert­en.“Netzer beteuert: „Ich war immer nur am Erfolg orientiert.“Dass seine Gladbacher in den 1970ern zwar mehr Meistersch­aften als die Münchner gewannen (vor seinem Wechsel zu Real Madrid feierte Netzer zwei von fünf mit), in den großen Spielen aber oft scheiterte­n, veranlasst­e den Biografen Böttiger zu der Feststellu­ng: „Die Magie der Gladbacher rührt nicht vom Erfolg, sondern vom Scheitern.“Das würde Netzer bestreiten. Zumindest lag das nie in seiner Absicht, eine Art Spielleite­r eines irgendwie tragischen Ensembles zu sein.

Trotzdem wirkte er meist ernst, manchmal ein bisschen gebeugt von der Last der Verantwort­ung. Es gibt eine Fernsehauf­nahme von der Kabinenfei­er nach dem ersten Meistertit­el. Da geht Kapitän Netzer von Mann zu Mann, umarmt die Kameraden und schaut dabei wie einer, aus dem im Moment der Vollendung alle Kraft gewichen ist, sehr nachdenkli­ch, sehr still.

Auch darum gilt er vielen als grüblerisc­her, fast schwermüti­ger Mensch. Gegen diesen Eindruck würde er sich zu Recht wehren. „Das ist nicht mein Naturell“, würde er sagen, wenn man ihm das vorhält. Sein Naturell enthüllt sich beispielsw­eise, wenn er über den aus gegenseiti­ger Verehrung entstanden­en Dauerzwist mit Weisweiler spricht. Wenn er sich daran erinnert, wie der Trainer darauf reagierte, dass Netzer auf dem Höhepunkt seines Wirkens in Mönchengla­dbach die Discothek „Lovers Lane“betrieb. „Das ist das Ende“, stöhnte Weisweiler. Und während sich Netzer das Gesicht des verzweifel­ten Fußballleh­rers vorstellt, muss er lachen. Es kommt plötzlich, es kommt von tief innen, das ganze Gesicht arbeitet mit, er zeigt große Zähne, und der Körper bebt vor Vergnügen. Es gluckert richtig. Darin steckt viel vom echten Netzer. Aber auch, dass er das Lachen immer schnell wieder einpackt in seine seriöse, kühle Miene, gehört zum echten Netzer. Man hat stets den Verdacht, dass er an diesem Wechselspi­el großen Spaß hat.

Die Fußballwel­t durfte sich davon lange ihr eigenes Bild machen, denn Netzer war ein öffentlich­er Mensch. Daran hat er bewusst einiges geändert. „Ich schau schon noch Fußball“, erklärt er unserer Redaktion, „aber ich muss ihn nicht beurteilen. Das Fernsehen, die Kolumnen – das sind alles Dinge, die ich fast mit einem Schlag beendet habe. Das mache ich mit Konsequenz. Das ist mein Charakter. Es gibt da keine Halbheiten.“Er hat es abgehakt, und das scheint ihm nicht schwerzufa­llen. „Mir geht es gut“, beteuert er glaubwürdi­g, „ich bin ein dankbarer Mensch, ich hatte viel Glück in meinem Leben, ich habe eine großartige Familie, und ich bin froh, wie alles gekommen ist.“Natürlich denkt er schon mal an die alten Zeiten. „Aber ich stehe nicht morgens auf und sage: Was warst du für ein toller Kerl.“Mit dem Geschäft hat er seinen Frieden gemacht und abgeschlos­sen. „Ich bedauere die, die nicht loslassen können“, sagt Netzer.

Er genießt ganz sicher die neue Freiheit, die er weder als Fußballpro­fi noch als Manager, Tv-analyst oder Medienrech­te-händler hatte. Und er betont: „Ich weiß, dass ich privilegie­rt bin.“Es ist ihm wichtig, dass man das versteht und ihn nicht als einen sieht, der sich nicht erinnert, woher er kommt. Das hat er nie vergessen, die Kindheit an der Gasthausst­raße in der Mönchengla­dbacher Altstadt, den Lebensmitt­elladen der Mutter. Und den ersten Fußball. Der Ball und ein paar Bonbons aus dem Laden waren der Grund, weshalb der kleine Günter schon als Fünfjährig­er bei den Großen mitspielen durfte. Bald brauchte er den Ball als Argument nicht mehr. Er wurde eine der größten Figuren des deutschen Fußballs.

Lange her, würde er sagen, und: „Ich schau nicht so oft in die Vergangenh­eit.“Das ist vielleicht ein bisschen geschwinde­lt. Dass ihm sein Geburtstag keine Angst macht, kann man aber glauben. „Man wächst da so rein, die Zahl 75 verursacht mir keine Panik“, versichert er, „ich bin äußerst zufrieden.“Das klingt auch so.

Man muss sich Günter Netzer als sehr entspannte­n Herrn in seinem Haus in Zürich vorstellen. „Mir fehlt nichts“, sagt er, „und Langeweile kommt nicht auf.“Es ist eben das schöne, das faule Leben, von dem er immer geträumt hat. Das Lieblingsl­eben.

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FOTO: IMAGO IMAGES Fertig machen fürs Firmenfoto: Günter Netzer steht am 5. Juli 1971 mit Angestellt­en vor seiner Discothek „Lovers Lane“.
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FOTO: DPA Günter Netzer, Anfang September in Zürich.

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