Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die Geschichte der Bienen
Sein Körper wurde schlaffer, er wurde noch blasser, Schweiß trat ihm auf die Stirn, seine Augen waren geschlossen. Wie weit es war. Wie weit wir vorhin gelaufen waren.
War es wirklich so weit gewesen? Schließlich tauchten die ersten Häuser vor uns auf. Aber wir kamen aus einer anderen Richtung als der, in die wir zuvor aufgebrochen waren. Die Pfade ähnelten sich so, dass wir keinen Unterschied bemerkt hatten.
Stille. Wo steckten sie alle? Endlich sahen wir einen Menschen, eine ältere Frau. Auf dem Weg aus dem Haus. Sie hatte sich schick gemacht, das fiel mir auf, sie hatte Lippenstift aufgelegt und trug ein Kleid. „Stopp!“, rief Kuan. „Stopp! Bitte helfen Sie uns.“Die Frau war einen Moment lang verwirrt, dann sah sie das Kind.
Der Krankenwagen kam schon nach wenigen Minuten. Als er heranraste, wirbelte er den Staub von der trockenen Straße auf, der sich über Wei-wens Haar, seine Schuhe und seine Wimpern legte. Weißgekleidete Sanitäter sprangen heraus. Vorsichtig hoben sie Wei-wen aus Kuans Armen und nahmen ihn mit. Sein Arm entglitt dem Griff des Sanitäters und baumelte hinab. Das war das Letzte, was wir von ihm sahen. Kuan und ich wurden zum Auto geführt, aber nicht zu ihm nach hinten, wir mussten uns in die Fahrerkabine setzen. Jemand erinnerte uns daran, dass wir die Sicherheitsgurte anlegen sollten.
Sicherheitsgurte. Was sollten wir damit?
George
Eine Stunde und 22 Minuten, bevor der Wecker klingelte, wurde ich wach. Die Bettwäsche war schweißnass, ich riss die Decke beiseite, wusste jedoch, dass ich unmöglich wieder einschlafen konnte. Heute war der Tag der Kontrolle meiner Bienenstöcke, die erste Inspektion nach dem Winter. In der Nacht davor schlief ich oft schlecht, war mit den Gedanken schon bei den Magazinbeuten. Wachs, Waben und Brut beschäftigten mich. Ich wusste nie, was mich erwartete, wenn ich die Bienenstöcke öffnete, ich hatte schon erlebt, dass im Winter bis zu 50 Prozent meiner Bienen gestorben waren. Und wenn man dort stand und sah, dass in der Hälfte aller Beuten weder Königin noch Brut überlebt hatten, war das ein schlimmes Gefühl. Dieser Winter war jedoch normal gewesen, weder besonders kalt noch besonders warm, und es bestand kein Grund für eine derartige Abweichung.
Trotzdem stand ich zitternd da, als ich auf Rick und Jimmy wartete. Ich hatte sie gebeten, um halb acht zu kommen, weil ich möglichst früh anfangen wollte. Am liebsten hätte ich schon längst losgelegt, aber wir drei hatten die Tradition, dass wir uns am ersten Kontrolltag immer hier auf dem Hof trafen, und es mussten die richtigen Dinge gesagt und die richtigen Getränke getrunken werden.
Rick kam wie immer als Erster. Er war groß und dünn und sah aus, als wäre er nicht richtig zusammengesetzt worden. Ein wenig erinnerte er an James Stuart, nur ohne dessen gewinnendes Lächeln. Seine Nase war lang und markant, die Augen lagen tief, und das Haar wurde licht, obwohl er nicht einmal dreißig war. Er wand sich umständlich aus dem Auto heraus. Rick bewegte sich immer zehnmal mehr als eigentlich nötig, bei allem, was er tat, war er von Kopf bis Fuß unstrukturiert, dabei aber eifrig. Er hatte per Fernstudium eine landwirtschaftliche Ausbildung gemacht und las eine Menge, immerzu. Zu allem, was wir taten, konnte er einen Hintergrund liefern. Und die historischen Zusammenhänge. Und die Theorie. Es war, als würde man eine Münze einwerfen. Der Mann war der reinste Wissensautomat. Er träumte von einem eigenen Hof, obwohl er, wenn man ehrlich war, besser davon hätte träumen sollen, hinter einem Schreibtisch zu sitzen und seinen Kopf einzusetzen.
Er blieb stehen und schwang die Arme, konnte wie immer nicht stillhalten.
„Na dann…“, sagte er.
„Na dann“, sagte ich.
„Tja… hast du schon eine Ahnung, wie die Dinge liegen?“
„Nein. Gut? Gut, denke ich. Es gibt keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.“
„Nein, das stimmt, es gibt keinen Grund.“
Er runzelte die Stirn und raufte sich das schüttere Haar.
„Oder na ja.“Jetzt kratzte er sich mit beiden Händen so hektisch am Kopf, dass man glauben konnte, er hätte Läuse. „Man kann nie wissen.“
„Nein. Man kann nie wissen. Aber nach so einem Winter…“
„Nein. Das ist klar.“
„Ja.“
„Aber es gibt natürlich auch diesen seltsamen Schwund.“
„Ach ja, das.“
Ich tat, als hätte ich nicht daran gedacht. Aber natürlich hatte ich. Schließlich verfolgte ich das Geschehen. Sogar The Autumn Tribune hatte über den mysteriösen Kollaps geschrieben, der einige Imker im Süden getroffen hatte. Im November hatte ein Mann in Florida berichtet, dass seine Bienenstöcke plötzlich leer gewesen seien. David Hackenberg hieß er. Plötzlich redeten alle davon, was auf seinem Hof passiert war. Und seither waren immer wieder Fälle gemeldet worden, aus Florida, Kalifornien, Oklahoma und Texas.
Es war immer die gleiche Geschichte. Im einen Moment waren die Bienenvölker gesund, hatten genug Nahrung und Brut, alles in bester Ordnung. Und plötzlich, im Laufe weniger Tage, ja sogar Stunden, war der Bienenstock so gut wie leer. Die Bienen waren weg, hatten ihre eigene Brut verlassen, alles verlassen. Und kamen nie wieder zurück.
Wie gesagt waren Bienen reinliche Tiere. Auch um zu sterben, flogen sie davon, weil sie nicht liegen bleiben und ihren eigenen Stock beschmutzen wollten. Vielleicht war das der Grund für den Schwund gewesen. Aber normalerweise blieb die Königin immer da, zusammen mit einer kleinen Zahl Jungbienen. Diesmal waren die Arbeitsbienen nicht zurückgekehrt und hatten Mutter und Junge allein ihrem Tod im Bienenstock überlassen. Das war wider ihre Natur.
Niemand konnte sicher erklären, warum es so war. Als ich zum ersten Mal davon hörte, dachte ich, es läge an der schlechten Pflege, dieser Hackenberg hätte sich nicht ordentlich um seine Bienen gekümmert.
(Fortsetzung folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRUPPE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUNG: URSEL ALLENSTEIN
( Redaktioneller Hinweis: An den Erscheinungstagen 11. und 12. September haben wir die Folgen versehentlich falsch nummeriert; die Texte aber waren korrekt. Von heute an stimmt die Nummerierung wieder.)