Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Inflation beim Einser-abitur

Eine Umfrage in den Bundesländ­ern zeigt: Die Abitur-noten deutscher Schüler sind über die Jahre besser geworden. Ein Grund zur Freude ist das allerdings nicht, sagt der Deutsche Hochschulv­erband.

- VON MARC LATSCH

BERLIN Die Zahl der Einser-abiturient­en in Deutschlan­d nimmt deutlich zu. Hatte 2008 noch ungefähr jeder fünfte Schulabsol­vent einen Notenschni­tt von mindestens 1,9, war es 2018 bereits mehr als jeder vierte. Das ist das Ergebnis einer Umfrage unserer Redaktion in allen 16 Bundesländ­ern. Demnach ist in den vergangene­n zehn Jahren der Anteil der Einser-abiturient­en in 15 von 16 Bundesländ­ern gestiegen. Allein Baden-württember­g verzeichne­te einen leichten Rückgang. Deutschlan­dweit stieg der Anteil von 20,2 auf 25,8 Prozent. Die Daten beziehen sich auf die Ergebnisse des Abiturjahr­gangs 2018. Schleswig-holstein konnte als einziges Bundesland nur Zahlen von 2017 vorlegen.

Für den Deutschen Hochschulv­erband (DHV) sind mehr Einser-abiturient­en eine schlechte Nachricht. „Wir sehen es mit Sorge, dass die Abiturnote­n besser werden“, sagte Dhv-sprecher Matthias Jaroch unserer Redaktion. Der „Noteninfla­tion“müsse Einhalt geboten werden: „Qualität muss Vorrang vor Quantität haben.“Schon heute fehlten Studienanf­ängern oft wichtige Grundkennt­nisse, etwa in Mathematik.

Ilka Hoffmann, Vorstandsm­itglied der Lehrergewe­rkschaft GEW, hat für die verbessert­en Ergebnisse eine ganz andere Erklärung: „Mein Eindruck ist, dass die Jugendlich­en heute zielstrebi­ger sind.“Einen Qualitätsv­erlust sieht sie nicht. „Dass die Schule einfacher wird und die Schüler fauler werden, erzählt man sich bereits seit 2000 Jahren“, sagte Hoffmann. Das decke sich nicht mit ihrer eigenen Abitur-erfahrung aus dem Jahr 1981. „Ich würde nicht sagen, dass es damals schwerer war. Wir hatten sogar mehr Freiräume.“

Die Daten der Länder zeigen nicht nur, dass die Zahl der Einser-abiturient­en zugenommen hat. Sie belegen auch, wie groß nach wie vor die Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern sind. 37,9 Prozent der Thüringer Abiturient­en hatten 2018 eine Eins vor dem Komma stehen. In Niedersach­sen waren es im selben Jahr nur 21,7 Prozent. Auf dem drittletzt­en Platz lag Rheinland-pfalz: 22,5 Prozent verließen dort mit einem Einser-abitur die Schule. Bei Schlusslic­ht Schleswig-holstein waren es zuletzt sogar nur 17,3 Prozent der Schulabsol­venten.

In Nordrhein-westfalen ist der Anteil der Einser-abiturient­en in den vergangene­n zehn Jahren um 7,5 Prozentpun­kte gestiegen. Größer war der Zuwachs nur in drei anderen Bundesländ­ern, am größten in Sachsen (12,2 Punkte). 2008 hatten in NRW noch 16,8 Prozent der Abiturient­en einen Notendurch­schnitt zwischen 1,0 und 1,9. 2018 waren es bereits 24,3 Prozent.

„In ganz Deutschlan­d haben sich die durchschni­ttlichen Abiturnote­n in den letzten 20 Jahren leicht verbessert“, sagte Nrw-schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP). Damit die hohen Ansprüche an die Hochschulr­eife erhalten blieben, setze sie auf mehr Vergleichb­arkeit zwischen den einzelnen Abiturprüf­ungen. „Der ländergeme­insame Aufgabenpo­ol in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisc­h trägt dem Rechnung“, sagte Gebauer.

Für Dhv-sprecher Jaroch ist das der richtige Ansatz. „Damit Standards nicht verwässern, braucht es ein einheitlic­hes Abitur“, sagte er. Das würde auch für eine größere Vergleichb­arkeit beim Numerus clausus sorgen.

Knapp die Hälfte der Studiengän­ge in Deutschlan­d hat eine solche Zugangsbes­chränkung. Jaroch betonte: „Wir wollen niemandem die Lebenschan­cen verbauen.“Es sei aber wichtig, dass Abiturient­en mit ausreichen­den Fähigkeite­n an die Hochschule­n kämen. Für GEW-VORstand Hoffmann sind die NC-VORgaben hingegen „völlig unsinnig und schädlich“. „Die Noten sagen nichts über die spätere Eignung für den Beruf aus“, sagte sie. Ein Arzt brauche zum Beispiel andere Fähigkeite­n als eine gute Geschichts­note. Sie wünscht sich stattdesse­n eine stärkere Berufsorie­ntierung an den Schulen.

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