Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der unheimlich­e Roman der Margaret Atwood

Mit „Die Zeuginnen“setzt die kanadische Autorin ihren Weltbestse­ller „Der Report der Magd“auf ungewöhnli­che Weise fort.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Am bedrückend­sten sind literarisc­he Fantasien, die nicht erfunden sind. Oder uns zumindest bekannt, irgendwie vertraut oder wenigstens denkbar erscheinen. Auch darum sind Margagret Atwoods „Zeuginnen“ein derart fassungslo­s machendes Buch. Und das von Beginn an. Die Bedrückung wächst mit jeder Seite, die Ratlosigke­it über einen solchen Zustand der Welt und auch die Angst, dass das alles so werden könnte, wie es beschriebe­n ist. In der Geschichte steht nichts, „das nicht schon einmal irgendwo irgendwann passiert wäre“.

Das hat Atwood über das „Ursprungsb­uch“gesagt, also über den „Report der Magd“, der als Buch 1985 für viel Aufmerksam­keit, in einer Schlöndorf­f-verfilmung vor knapp 30 Jahren und als Oper vor 20 Jahren für Aufsehen gesorgt hatte, vor allem aber in einer Us-amerikanis­chen Tv-serie mit Elisabeth Moss vor zwei Jahren Furore machte.

Dementspre­chend groß ist jetzt der Wirbel über den zweiten Teil dieser Geschichte aus Gilead, diesem fundamenta­listischen Gottesstaa­t in den USA. Gilead ist Terror, ist Überwachun­g und Menschenpr­oduktion. So spielt die Geschichte zu einer Zeit, in der viele Frauen unfruchtba­r sind. Die wenigen, die noch Kinder gebären können, werden allein zu diesem Zweck im Gewand von Ordensschw­estern gehalten und missbrauch­t. Eine von ihnen war Desfred, die am Ende des ersten Buches aus Gilead zu fliehen versuchte.

Die bald 80-jährige Kanadierin Margaret Atwood ist eine viel zu große Autorin, als dass sie jetzt nach dem Weltbestel­ler bloß eine Art Fortsetzun­g geschriebe­n hätte. Stattdesse­n sind es diesmal Berichte, Tagebücher, Zeugenauss­agen dreier Frauen: Agnes aus Gilead, Daisy aus dem Widerstand gegen Gilead, Lydia, eine vom System korrumpier­te Richterin.

Drei Blicke auf den Terror, aus dem Zentrum des Unerklärli­chen. Zugleich ist es das Material, mit dem sich das „Dreizehnte Symposium“über Gilead-studien vom 29. bis 30 Juni 2197 befasst. Aber das erfahren wir erst am Ende, nach über 550 Seiten. Historiker beugen sich da streng wissenscha­ftlich über die Berichte. Was echt ist und der Wahrheit entspricht? Schwierig zu entscheide­n, denn „das kollektive Gedächtnis ist notorisch fehleranfä­llig, und ein Großteil der Vergangenh­eit versinkt im Meer der Zeit“, heißt es so perfide weise.

Die drei „Zeuginnen“von einst werden im Nachgang der Geschichte hinterfrag­t, ihre Schicksale sorgsam geprüft. Doch wir Leser spüren, wie unzureiche­nd das alles ist, wie ungerecht auch gegenüber den Frauen.

Man kann es nicht anders sagen: Dieses Buch spielt mit uns. Ein ganz und gar unheimlich­er Roman, weil man irgendwann begreift: Die Geschichte von Margaret Atwood ist mitten unter uns. Führt also noch ein Weg am Literaturn­obelpreis für Atwood in diesem Jahr vorbei? Natürlich, den hat es früher ja auch gegeben. Schon damals war es der falsche Weg; er ist es mehr denn je.

Info „Die Zeuginnen“. Übersetzt von M. Baart. Berlin-verlag, 576 S., 25 Euro

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FOTO: DPA Die Sklaven-mägde aus dem Staat Gilead. Szene aus der Tv-serie zu Atwoods Roman „Der Report der Magd“.

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