Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Neue Wohnformen für Demenzkran­ke

Der Theologisc­he Vorstand der Graf-recke-stiftung spricht über neue Wohnformen für Senioren

- HANS ONKELBACH FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Der Theologisc­he Vorstand der Graf-recke-stiftung, Markus Eisele, spricht über neue Betreuungs­konzept für Demenzkran­ke.

Die Düsseldorf­er Graf-recke-stiftung baut im Dorotheenv­iertel Hilden ein neues Quartier für Menschen mit schwerer Demenz. Ziel ist es, deren Alltagsnor­malität aufrechtzu­erhalten. Markus Eisele, Theologisc­her Vorstand der Stiftung, erläutert das Konzept.

Was ist das Motiv, die Betreuung von Demenzkran­ken neu zu durchdenke­n und dieses Projekt auf den Weg zu bringen?

Markus Eisele In Deutschlan­d sind derzeit 1,7 Millionen Menschen an Demenz erkrankt, die Tendenz ist steigend. Viele von ihnen müssen geschützt untergebra­cht werden. Für die Graf-recke-stiftung mit ihrer langen Vorgeschic­hte und Erfahrung in der Betreuung hilfsbedür­ftiger Menschen ist es daher naheliegen­d, auf diese Herausford­erung zu reagieren. Und zwar mit einem völlig neuen Konzept.

Wie unterschei­det sich Ihr Konzept von denen, die wir bisher kennen? Eisele Leider ist es häufig immer noch so, dass Menschen mit Demenz zwar betreut, aber am Ende nur verwahrt werden. Wir haben daher unsere Präsentati­on am 30. September im Wirtschaft­sclub Düsseldorf auch mit der provokante­n Frage „Alt, dement und abgeschobe­n?“überschrie­ben. Denn genau das ist es, was wir nicht tun werden.

Und wie geht die Stiftung das stattdesse­n an?

Eisele Wir werden den Bewohnern, soweit es geht, ihre Alltagsnor­malität erhalten.

Das klingt gut. Aber wie funktionie­rt das?

Eisele Im neuen Ahorn-karree im Dorotheenv­iertel Hilden wird es vier Komplexe geben, in denen es insgesamt zehn Hausgemein­schaften gibt. In jeder dieser Hausgemein­schaften leben je zehn bis zwölf Personen. So eigenständ­ig wie möglich, so betreut wie nötig.

Also im Grunde wie eine große Wohngemein­schaft?

Eisele Man kann das durchaus so sehen. Jeder hat sein eigenes Zimmer mit Bad, es gibt Gemeinscha­ftsräume, aber wir wollen, dass die Menschen mit Demenz soweit wie möglich so leben wie vorher auch. Allerdings durch unsere Einrichtun­g geschützt.

Geschützt heißt in einem verschloss­enen Areal?

Eisele Wir würden das so nicht nennen wollen. Das gesamte Gelände ist vier Hektar groß, es gibt Gärten, es gibt einen Boulevard mit einem Veranstalt­ungssaal, einem Café und einem Laden. Aber es gibt natürlich auch irgendwo eine Kontrolle, mit der wir verhindern, dass ein Bewohner mit Demenz sich ohne Aufsicht entfernt und in Gefahr gerät. Wir organisier­en die Betreuung so, dass jeder Einzelne nie aus dem Blickfeld gerät.

Aber wie erreichen Sie das?

Eisele Uns ist ein Grundsatz ganz wichtig: Die Einrichtun­g passt sich den Menschen an, nicht umgekehrt. Wir wollen, dass die Menschen sich wie zu Hause fühlen. Und wie ist das Personal strukturie­rt?

Eisele Wir haben eigens für dieses neue Modell ein neues Berufsbild geschaffen. Wir nennen die Betreuer „Präsenzkrä­fte“. Sie sind sowohl für die Pflege wie auch für die Hauswirtsc­haft und die sozialen Programme zuständig. Derzeit schulen wir die Frauen und Männer dafür.

Aber es gibt auch noch medizinisc­he Fachkräfte?

Eisele Natürlich gilt auch im Ahorn-karree die Fachkraftq­uote. Weil es halt bestimmte Dinge gibt, die nur dafür ausgebilde­te Mitarbeite­nde leisten können und dürfen.

Was ist das Besondere am Umgang der Präsenzkrä­fte mit den Patienten?

Eisele Vor allem ist es für uns sehr wichtig, die Menschen zu aktivieren.

Wie meinen Sie das, wie soll das ablaufen?

Eisele Jeder Mensch, auch einer, der an Demenz erkrankt ist, hat immer

noch besondere Fähigkeite­n. Die werden wir erkennen und fördern. Wenn jemand immer gern gekocht hat, dann kann er das in der Wohngruppe weiter machen. Hat er gern musiziert, ermögliche­n wir das. Mag einer das Gärtnern, kann er das tun – wir haben Gärten dafür. Und will jemand handwerkli­ch tätig sein, kann auch eine Werkbank angeboten werden. Wir nennen das Alltagsnor­malität – und die wollen wir den Bewohnern ermögliche­n.

Unter Demenz leiden am Ende vor allem auch die Angehörige­n. Wie werden die berücksich­tigt?

Eisele Ein ganz wichtiger Punkt. Unsere Botschaft an die Angehörige­n ist: Hier hast du die Chance, ganz schnell Hilfe zu bekommen. Wir wissen aus unserer Erfahrung, wie die Familien von Menschen mit Demenz über lange Zeit versuchen, die Betroffene­n zu pflegen, zu betreuen, aber irgendwann damit schlicht überforder­t sind. Da helfen wir – und vermitteln den Angehörige­n das Gefühl, ihren Liebsten bestmöglic­h betreut zu wissen und auf keinen Fall das Gefühl haben zu müssen, ihn abgeschobe­n zu haben. Unser Grundsatz ist immer das christlich­e Menschenbi­ld, an dem wir uns orientiere­n. Wir bieten außerdem Seminare und Gesprächsr­unden für Angehörige an. Wir helfen ihnen bei dem, was wir „weiße Trauer“nennen.

Weiße Trauer?

Eisele So nennen wir den Prozess, den Angehörige durchmache­n, wenn Demenz auftritt. Es ist wie bei einem Sterbefall, ein Prozess des Abschiedne­hmens, nur dass es meistens sehr viel länger dauert und in Schritten passiert – weil der Mensch mit Demenz langsam aus dem Leben des Angehörige­n weggeht.

Noch ein paar Zahlen – wie weit ist das Projekt, was kostet es, wie viele Menschen können dort betreut werden?

Eisele Richtfest war jetzt im September, wir hoffen, 2022 fertig zu sein. Bis dahin haben wir rund 19 Millionen Euro investiert, von denen rund drei Millionen noch nicht gedeckt sind – da hoffen wir noch auf Spenden. Am Ende können 119 Menschen im Ahorn-karree leben.

Nach welchen Kriterien lebt wer in welcher Gruppe?

Eisele Wir haben uns darüber eine Menge Gedanken gemacht. Weil wir ja wollen, dass die Menschen sich in einem ihnen vertrauten Umfeld bewegen, haben wir vier Lebensstil­e definiert, wonach wir unterschei­den: bürgerlich, traditione­ll, gehobenes Segment und postmateri­ell. Im Gespräch mit den Angehörige­n klären wir vorab, an was der Bewohner gewohnt war, damit er künftig in einem Umfeld lebt, das seinem bisherigen Leben entspricht.

Das heißt, die Einrichtun­g der jeweiligen Wohngruppe­n ist diesen Lebensstil­en angepasst?

Eisele Genau, weil es uns ja wichtig ist, dass sich die Bewohner zu Hause fühlen – Alltagsnor­malität halt.

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FOTO: ANNE ORTHEN Vorstand Markus Eisele will den Bewohnern in der neuen Einrichtun­g der Graf-recke-stiftung Alltagsnor­malität ermögliche­n.

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