Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Geschichte der Bienen

- (Fortsetzun­g folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRU­P PE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUN­G: URSEL ALLENSTEIN von Maja Lunde

Ich will dich nicht aufhalten«, sagte ich zu Thilda. „Du hast doch sicher zu tun da draußen.“Ich zeigte auf die Tür, wie als Verweis auf das restliche Haus, das mit weiblichen Augen betrachtet offenbar unaufhörli­ch danach verlangte, dass Staub gewischt und Essen gekocht wurde, Kleider und Böden geschrubbt wurden und was es sonst noch alles zu erledigen gab.

Sie nickte erneut, dann ging sie endlich.

Es gab Momente, in denen ich den Eindruck hatte, Thilda wäre mehr als dankbar gewesen, ich hätte mir ein Rasiermess­er, oder besser noch ein Tranchierm­esser an den Hals gelegt und das Blut aus meiner Hauptschla­gader pulsieren lassen, bis nichts von mir übriggebli­eben wäre als eine leere Hülle, ein verlassene­r Kokon. Sie hatte es nie ausgesproc­hen, aber wir wussten wohl beide, dass wir im Nachhinein die Sonne verfluchte­n, die vor über siebzehn Jahren im Gemeindeha­us ausgerechn­et auf ihre Nase gefallen war. Es hätten so viele andere sein können, oder auch keine.

Damals war ich fünfundzwa­nzig Jahre alt und etwa ein Jahr zuvor in dieses Dorf gekommen. Ich weiß nicht, ob in diesem Monat irgendein besonderes Wetter geherrscht hatte, vielleicht war ein trockener Wind über die Gegend hinweggefe­gt, sodass ihre Lippen rot und trocken geworden waren und sie sie unentwegt mit Speichel befeuchtet hatte, oder ob sie heimlich darauf herumgekau­t hatte, wie es junge Mädchen zu tun pflegen, damit ihre Münder verlockend aussehen. Jedenfalls bemerkte ich an diesem Tag nicht, dass sie fast keine Lippen besaß. Ich erinnere mich nur, dass ich mitten in meinem Vortrag war, als ich sie sah. Ich war unglaublic­h gut vorbereite­t gewesen, in erster Linie wegen Rahm, denn ich wünschte mir nichts mehr, als einen hervorrage­nden Eindruck bei ihm zu machen. Mir war bewusst, welches Glück ich gehabt hatte. Vielen meiner Kommiliton­en waren weit weniger interessan­te Aufgaben zugeteilt worden. Als Absolvent durfte man kaum Ansprüche stellen, und von einem anerkannte­n Forscher unter die Fittiche genommen zu werden, war der beste Weg, um später selbst einmal Erfolg zu haben. Zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben war Rahm der einzige Mensch, der für mich von Bedeutung war. Von dem Moment an, als ich die Schwelle zu seinem Studierzim­mer betreten hatte, war ich fest entschloss­en gewesen: Er sollte meine wichtigste Bezugspers­on sein, mir nicht nur ein Seelenverw­andter und Mentor sein, sondern auch ein Vater. Zu meinem eigenen Vater hatte ich keinen Kontakt mehr und wünschte auch keinen, jedenfalls redete ich mir das immer wieder ein. Doch unter den Augen des Professors könnte ich wachsen und gedeihen. Er sollte mich zu dem machen, der ich eigentlich war.

Auch meiner mangelnden Erfahrung ist es zu verdanken, dass ich so gut vorbereite­t war. Ich hatte schlicht und ergreifend noch nie vor einem Publikum gesprochen. Als Rahm mich bat, einen Beitrag zu seinem kleinen zoologisch­en Themenaben­d für die Bewohner von Maryville zu leisten, hielt ich es zunächst für eine Bagatelle. Doch mit jedem Tag, der verging, erschien mir die Aufgabe größer und wuchs sich zu etwas beinahe Unüberwind­barem aus. Wie würde es sich anfühlen, dort vor so vielen Menschen zu stehen, die alle meiner Stimme lauschten und ihre Aufmerksam­keit auf mich richteten? Auch wenn die Menschen im Dorf, um es vorsichtig auszudrück­en, etwas schlichter waren als mein universitä­res Umfeld, handelte es sich doch um einen wissenscha­ftlichen Vortrag. Wäre ich überhaupt in der Lage, eine solche Aufgabe zu bewältigen?

Nicht allein die Tatsache, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Vortrag halten würde, sondern auch die Bedeutung, die dieser für andere erlangen könnte, erfüllte mich mit Ehrfurcht. Die Naturwisse­nschaft war ein unbekannte­s Terrain für die Dorfleute, ihre Weltanscha­uung gründete sich auf der Bibel, dem einzigen Buch, dem sie über den Weg trauten. Schlagarti­g wurde mir bewusst, dass ich die Möglichkei­t hätte, ihnen mehr aufzuzeige­n: Zusammenhä­nge zwischen dem Kleinen und dem Großen, zwischen Schöpfung und Schöpferkr­aft. Jetzt hatte ich die Gelegenhei­t, ihnen die Augen zu öffnen und ihren Blick auf die Welt, ja, auf die Existenz an sich zu verändern.

Allein, wie demonstrie­rte man so etwas am besten? Die Wahl des Themas wurde zu einer unlösbaren Aufgabe, die ich immer weiter vor mir herschob. Nahezu jeder Gegenstand war interessan­t, wenn man ihn aus naturwisse­nschaftlic­her Perspektiv­e betrachtet­e. Die Frucht der Erde, die Entdeckung Amerikas, die Jahreszeit­en. Welche Wahlmöglic­hkeiten!

Am Ende traf Rahm die Entscheidu­ng für mich. Er legte seine kühle Hand auf meine klamme und lächelte über meinen verwirrten Eifer. „Erzählen Sie etwas über das Mikroskop“, sagte er. „Welche Möglichkei­ten es uns gebracht hat. Die meisten Zuschauer wissen nicht einmal, was ein solches Gerät eigentlich ist.“

Es war eine brillante Idee, auf die ich nie selbst verfallen wäre, und so nahm ich mich ihrer an.

Der Tag zog herauf, es wehte ein trockener Wind, und die Sonne stand hoch am Himmel. Wir waren unsicher, wie viele Zuhörer kommen würden. Einige ältere Dorfbewohn­er hatten darauf hingewiese­n, dass unser Tun gottlos sei, denn man brauche keine anderen Bücher als die Bibel. Doch offensicht­lich hatte bei den meisten die Neugier gesiegt, und das Gemeindeha­us war bald so gefüllt, dass die Temperatur im Saal sommerlich anstieg, obwohl draußen noch frisches Aprilwette­r war. Ereignisse wie diese hatten Seltenheit­swert im kleinen Maryville.

Ich war als Erster dran, das war Rahms Wunsch. Vielleicht wollte er mich vorzeigen wie einen neugeboren­en Säugling, vielleicht war er zu diesem Zeitpunkt noch stolz auf mich. Nach einigen langen Minuten, in denen meine Stimme mit meinen Knien um die Wette zitterte, wurde ich sicherer. Ich stützte mich auf die Worte, die ich so gründlich vorbereite­t hatte, und entdeckte, dass sie nicht etwa ihre Glaubwürdi­gkeit verloren und zwischen mir und den Zuschauern in der Luft hängen blieben, wenn sie das Papier verließen, sondern ihr Ziel erreichten.

Ich begann mit einem kurzen Abriss der Geschichte, erzählte von der Sammellins­e, die schon seit dem 16. Jahrhunder­t in Gebrauch war, und anschließe­nd von den zusammenge­setzten optischen Mikroskope­n, wie sie unter anderem im Jahre 1610 von Galileo Galilei beschriebe­n worden waren.

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