Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Kindheit mit schizophrener Mutter
Das Düsseldorfer Schauspielhaus bringt Helene Hegemanns Roman „Bungalow“auf die Bühne – als drastische Familiengeschichte.
DÜSSELDORF Heute ist einer der ganz schlechten Tage. Die Mutter hat viel getrunken. Nun sitzt sie in der Küche, frisst ein vergammeltes Hühnchen, das sie samt Folie in rohem Ei gewendet hat, stopft auch die Verpackung in den Mund und klaubt die letzten Silben zusammen, um ihre Tochter zu beschimpfen. Charlie hat unzählige solcher Episoden mit ihrer schizophrenen, süchtigen Mutter hinter sich. Doch diesmal hat sie ihren einzigen Schulfreund im Schlepptau, und nun fliegt auf, was sie durch unzählige Tricks zu verheimlichen versucht: Ihre Mutter ist unzurechnungsfähig und das Leben mit ihr die Hölle.
Während Lea Ruckpaul als Charlie mit einem Blick voller Angst und Schmerz von dieser Szene berichtet, steht Judith Rosmair als ihre Mutter daneben, eng eingewickelt in Frischhaltefolie, die ihr Gesicht zur Fratze verzieht. Sie kämpft gegen das Plastik, ringt um Luft, während ihre Tochter um Fassung bemüht den täglichen Wahnsinn zu Protokoll gibt. Die Zuschauer sind Adressaten der Lebenserzählung einer Frau, die sich an ihre desolate Kindheit und Jugend erinnert. Sie spricht aus der Zukunft zu den Menschen im Theatersaal, inzwischen ist Charlie erwachsen, hat selbst Kinder. Doch es ist nicht alles gut geworden: Ein Krieg ist ausgebrochen, die Gewalt im Innern der Gesellschaft ist auch äußerlich eskaliert.
In ihrem dritten Roman „Bungalow“erzählt die Berliner Autorin Helene Hegemann vom Aufwachsen eines Mädchens, das den aggressiven Schüben der schizophrenen Mutter ausgeliefert ist. Die beiden leben in einem Hochhaus mit Sozialwohnungen, prekäres Umfeld, doch blicken sie auf eine Siedlung mit edel-spießigen Bungalows, in denen die Reichen wohnen. Die unerreichbare soziale Klasse ist nur einen Steinwurf entfernt. Als in einen der Bungalows ein lässiges Schauspielerpaar einzieht, observiert Charlie wie besessen deren Alltag. Sie ist verliebt in die beiden – in das privilegierte Leben, das sie führen.
Hegemanns Roman spielt viele Themen an: psychische Erkrankung, moderne Verwahrlosung, soziale Spannungen, Umweltkatastrophe, Krieg. Manches wird nur angedeutet, zur Steigerung der apokalyptischen Grundstimmung benutzt, doch gerade die Szenen zwischen Tochter und Mutter und die sarkastische Selbstreflexion eines altklugen Teenagers in hilfloser Lage sind stark.
Simon Solberg hat den Stoff jetzt für das Düsseldorfer Schauspielhaus erstmals auf die Bühne gebracht und konzentriert sich denn auch auf die Schilderung der dysfunktionalen Mutter-tochter-beziehung in all ihren drastischen, erschreckenden, manchmal auch komischen Details. Mit der Uraufführung eröffnet das Düsseldorfer Schauspielhaus in seinem renovierten Stammhaus auch seine Kammerspielstätte, wenngleich das Kleine Haus noch ganz Baustelle ist. Nur der Zuschauerraum wurde für die Öffentlichkeit zurückerobert, am Drumherum wird noch gearbeitet.
Solberg entwickelt treffende Bilder, um den erzählten Horror darzustellen. Die Mutter wird dabei immer mehr zum ramponierten Objekt, am Ende hat sie viel Farbe im Gesicht und steht da wie eine leidende Madonna. Im Bühnenbild hängen bedrohliche Gemälde, wie sie Menschen mit Psychosen malen. Manchmal stößt die Mutter ihren Kopf durch ein Bild, taumelt im kantigen Rahmen über die Bühne. Die gesamte Inszenierung ist in Schwarz-weiß gehalten. Es geht ja um Erinnerungen, noch dazu um schwer erträgliche. Lea Ruckpaul ist eine ideale Besetzung für die Rolle der Charlie, weil sie Bedrängnis und Leid ihrer Figur nicht ausschlachtet, sondern ständig dagegen anzukämpfen scheint. Das macht ihre Darstellung noch verzweifelter. Sie will ihre Mutter nicht schlecht machen, sie liebt sie trotz allem, aber der Alltag mit ihr ist so unerträglich, dass sie sich dem Publikum offenbaren muss. Ständig ringt sie mit etwas, mit Stoffbahnen, die ins Bühnenbild wehen, mit Brettern, die sie nach einem apokalyptischen 16-Tage-regen auf der Bühne auslegt. Dann steht sie wieder ganz allein im Zentrum der Bühne mit all ihrer Verzweiflung, ihren Aggressionen, spricht gehetzt in ein Mikro, stark und verletzlich zugleich.
Ihr einziger Gefährte ist Iskender, den Jonas Friedrich Leonhardi als naiven Nerd zeichnet. Wie sehr auch er unter der „Scheißangst“leidet, die im Hegemann-kosmos alle bedrängt, zeigt er erst später in einem furiosen Solo.
Nur Minna Wündrich und Sebastian Tessenow als das coole Schauspielerpaar bleiben den Verhältnissen enthoben. Sie werden wie durch eine falsche Spiegelwand über Video zugeschaltet, liefern sich hübsch zynische Dialoge über Schauspielerei und Verstellung. Da bekommt die Inszenierung für Momente ein wenig Leichtigkeit.
Wie so oft bei Romanadaptionen ringt auch Solberg trotz vieler szenischer Ideen mit der Textmenge, zumal der Roman wie ein Gedankenstrom hingeworfen ist, also wenig Dialoge bereithält. Wenn dann Charlies abwesender Vater an der Bühnenseite Wandbilder mit kitschiger Familiensilhouette klebt, wirkt das ein wenig verlegen. Auch kann die Inszenierung Schwächen des Romans nicht wettmachen. Die „Liebesbeziehung“des Mädchens zu den coolen Nachbarn etwa bliebt unplausible Pose, die apokalyptischen Zeichen in der Umwelt düstere Staffage. Doch diese Elemente erzählt Solberg nur nebenher, konzentriert sich auf die Stärken eines Textes, der mit großer Intensität aus dem Inneren einer persönlichen Hölle erzählt.
Regisseur Solberg entwickelt treffende Bilder, um den erzählten Horror darzustellen