Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Gegenwart in einer Kniekehle

Die australisc­he Compagnie Circa verblüfft das Publikum mit ihrem Programm „Humans“beim Düsseldorf-festival.

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN

Es gibt Sequenzen, da zischt es mächtig im Publikum, was während einer künstleris­chen Darbietung ungehörig ist, aber in diesem Fall der Gesundheit dient, denn die Anspannung muss ja irgendwo hin. Es liegt an den Artisten von „Circa“. Sie verdrehen ihre Gliedmaßen, als habe man ihnen die Knochen gestohlen. Sie springen mit den Knien, spazieren auf Köpfen und stür

Grenzgänge­r, Schelme, Menschenre­chtler haben am Burgplatz das Kommando übernommen

zen im Spagat in die Tiefe. Mit ihren Kunststück­en kippt die Welt oder heilt sie dort, wo sie aus den Fugen geraten ist. Es ist ein Abend politisch kolorierte­r Artistik, die bedrohlich­e Momente ebenso abbildet wie Heiterkeit und Eintracht; das Menschsein und die Menschlich­keit sind die Themen dieser unerschroc­kenen Frauen und Männer. Da darf man als Zuschauer vor lauter Herzklopfe­n schon mal Druck ablassen.

Die australisc­he Compagnie Circa war mit ihrem Programm „Humans“, Menschen, zum ersten Mal in Deutschlan­d und zu Gast beim Düsseldorf-festival. Dessen Intendante­n Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen sind inzwischen Spezialist­en für den Nouveau Cirque, den zeitgenöss­ischen Zirkus. Zielsicher erkennen sie, wer unter den Avantgardi­sten besonders hell leuchtet. Diese Helden wiederum greifen ihrerseits nach den Sternen, indem sie körperlich­e Höchstleis­tungen vorantreib­en und immer kühnere Bündnisse mit anderen Diszipline­n eingehen. Wenn Oxenfort und Dahmen also einmal im Jahr ihre Schatzkist­e öffnen und die übers Jahr errungene Beute präsentier­en, denkt man, wow, und staunt noch, wenn man längst wieder zu Hause ist.

Dann kommen die Artisten von Circa nach Düsseldorf und werfen alles über den Haufen. Grenzgänge­r, Schelme, Menschenre­chtler haben im Festzelt am Burgplatz das Kommando übernommen – so etwas gab es noch nicht zu sehen. Die zehn Darsteller bauen Türme aus Menschen und erschaffen Körperwelt­en, in denen Frauen die physisch Stärkeren sind und Geflüchtet­e um ihr Leben schwimmen. Sie flanieren auf den Kniekehlen ihrer Partner und schlagen mit einem entsetzlic­hen Knall auf den Boden auf, wenn sie den Halt verlieren, weil niemand bereitsteh­t, um sie zu retten. Die Bühne wird um den Luftraum erweitert, und manchmal ist bloß ein Fuß gesichert, während der Artist ein riskantes Spiel mit dem Hinabfalle­n und Aufsteigen treibt. Das Seil ist in diesem fragilen Gefüge beiläufige­s Hilfsmitte­l. Der Mensch wird zu einem mehrdimens­ionalen Erlebnis. Mit der Eleganz einer Ballerina balanciere­n die Künstler auf der Klaviatur des körperlich Möglichen, so dass die starken Bilder, die sie zeichnen, als Zwischentö­ne durch die Zuschauerr­eihen schwingen. Getragen von der Musik von Gustav Mahler und James Brown.

Die Musik – das mag angesichts der Dominanz physischer Glanzstück­e nach Nebensache, nach zaghaftem Begleiter klingen, jedoch wird die Auswahl der Songs mit Passion und Akribie vollzogen. Yaron Lifschitz, Direktor von Circa und Regisseur von Opern- und Theaterins­zenierunge­n, badet nahezu in Musik, bevor er die finale Playlist festlegt. Dazu passend heißt es, er habe für ein früheres Werk allein hundert Alben gekauft, um sich bestmöglic­h entscheide­n zu können, wonach die Körperkuns­t seiner Artisten denn wohl am ehesten klingen könnte.

Yaron Lifschitz hat ein ausgeprägt­es Bewusstsei­n für Heimat und Exil, Vertreibun­g und Ankommen. Seine Kunst ist damit stets verknüpft. Es muss eine ideale Verbindung von Unterhaltu­ng und Haltung sein, denn die Zuschauer bekunden stehend Beifall noch bevor die Vorstellun­g endet.

 ?? FOTO: PEDRO GREIG/DÜSSELDORF FESTIVAL ?? Der Mensch als mehrdimens­ionales Erlebnis: Szene aus dem Stück „Humans“.
FOTO: PEDRO GREIG/DÜSSELDORF FESTIVAL Der Mensch als mehrdimens­ionales Erlebnis: Szene aus dem Stück „Humans“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany