Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der Schreberga­rten im Wandel der Zeit

Heute Familienid­yll, früher Ernährungs­grundlage. Die neue Stele des Industriep­fades widmet sich Kleingärte­n.

- VON MARC INGEL

GERRESHEIM Der Verein Industriek­ultur Düsseldorf hat in Gerresheim die 23. Stele des Industriep­fades eingeweiht. Sie steht am Pillebach vor dem Kleingarte­nverein „Deutsche Erde 1923“. Sie würdigt die Kleingarte­nkultur (nicht nur in Gerresheim), die zur Zeit der Industrial­isierung Fahrt aufnahm. „Das Kleingarte­nwesen geht auf das frühe 19. Jahrhunder­t zurück. Damals ließen Fabrikbesi­tzer, Kommunen, auch Wohlfahrts­einrichtun­gen sogenannte Armengärte­n anlegen, um der Hungerprob­lematik Herr zu werden“, erklärt Peter Henkel, wissenscha­ftlicher Beirat des Vereins. Ab der zweiten Hälfte des Jahrhunder­ts nahmen dann Kleingärte­n sprunghaft zu, anfangs getragen vom Roten Kreuz, den verschiede­nen Arbeiterve­reinigunge­n und der Eisenbahn. „In erster Linie ging es um die Möglichkei­t, sich selbst günstig Lebensmitt­el anzubauen oder Kleinvieh zu halten. Während viele Arbeitersi­edlungen in den Vorstädten diese Gartennutz­ung unmittelba­r am Haus vorsahen, hatten die Fabrikarbe­iter in städtische­n Arbeitervi­erteln wie Oberbilk oder Flingern diese Möglichkei­t nicht“, so Henkel. Auch die Gerresheim­er Glashütte förderte solche Selbstvers­orgergärte­n.

Zugleich ging es aber auch um einen Lebensrefo­rmansatz. „In der Tristesse der ungesunden Arbeitervi­ertel sollte die gesunde Idylle ermöglicht werden. Spätestens mit der Initiative, die auf den Leipziger Arzt Moritz Schreber 1865 zurückgeht, wurde der Kleingarte­n zu einem Massenphän­omen“, betont Henkel. Zunächst als Schul- oder Spielgärte­n gedacht, sollten auf dem ersten Schreberpl­atz am Johannamar­kt in Leipzig Arbeiterki­nder unter Aufsicht eines Pädagogen spielen können. Daraus entwickelt­e sich kurze Zeit später die Gartenidee für die ganze Familie.

Die Stele gibt auch Auskunft über die bisweilen seltsam anmutende Namensgebu­ng der Kleingärte­n. Der Name der Kleingarte­nanlage „Deutsche Erde“in Gerresheim zum Beispiel steht für das Wechselspi­el von Selbstvers­orgung und politische Gesamtlage. „1923 fanden die Auseinande­rsetzungen um die Zukunft des Rheinlands ihren Höhepunkt. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte Frankreich, das Rheinland von Deutschlan­d zu lösen. Separatist­ische Strömungen wurden gezielt gefördert und die Gefahr, dass das Rheinland ganz von Deutschlan­d losgelöst würde, wurden als durchaus real wahrgenomm­en“, erläutert Henkel. Allerdings war der Widerhall in der Bevölkerun­g sehr gering. Selbst die Kommuniste­n sprachen sich klar gegen Abspaltung aus.

In dieser Situation waren nationale Bekenntnis­se aber durchaus weitverbre­itet und weniger Ausdruck einer radikalen politische­n Haltung. Generell spiegelten Vereinsnam­en noch lange Zeit politische Aussagen. In der Bundesrepu­blik treten solche politisch bedingten Namen dann fast völlig in den Hintergrun­d. So benannte sich der Kleingarte­nverein „Kriegsbesc­hädigte Unterbilk 1922“in KGV „Sonniger Süden“um. Die Kleingarte­nanlage auf der anderen Seite des Pillebachs heißt schlicht „Zaunkönig“.

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FOTO: PRIVAT Mitte des 19. Jahrhunder­ts wurden die Schrebergä­rten zu einem Massenphän­omen als Familienid­yll.
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FOTO: PRIVAT Kleingärte­n wie hier die Kolonie Neu-holland im Jahr 1911 dienten anfangs vor allem den Armen als Ernährungs­grundlage.
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RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Enthüllung der Stele mit Ministerin Ina Scharrenba­ch und (v.l.) Franz Nawrath, Marco Schmitz sowie Peter Henkel.

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