Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Özdemir ist gescheitert
Der frühere Grünen-chef verliert die Kampfabstimmung um die Fraktionsspitze. Hofreiter und Göring-eckardt bleiben.
BERLIN Für Sven-christian Kindler war Dienstag ein besonderer Tag in seiner Politikerkarriere. Der 34-Jährige durfte als jüngstes Mitglied der Grünen-bundestagsfraktion die mit Spannung erwartete Wahl der beiden Fraktionsvorsitzenden leiten. „Es wird auf jeden Fall knapp“, hatte Kindler vor der Wahl prophezeit.
Doch Kindler irrte: Die amtierenden Fraktionschefs Katrin Göring-eckardt (53) und Anton Hofreiter (49) wurden dann doch recht eindeutig im Amt bestätigt. Der Putsch des früheren Parteichefs Cem Özdemir ist gescheitert. Özdemir, der zusammen mit der weitgehend unbekannten Bremer Abgeordneten Kirsten Kappert-gonther den Machtkampf um die Fraktionsspitze angezettelt hatte, wird nicht in die vorderste Reihe bei den Grünen zurückkehren.
Mit 41 von insgesamt 67 Stimmen oder gut 61 Prozent setzte sich im ersten Wahlgang der Frauen zunächst Göring-eckardt gegen Kappert-gonther durch. Den Wahlgang der Männer entschied dann Hofreiter mit 39 zu 27 Stimmen oder 58 Prozent gegen Özdemir für sich. „Die Erde wird sich weiterdrehen. Wer kämpft, kann verlieren – wer nicht kämpft, hat schon verloren“, sagte Özdemir nach seiner Niederlage. Die Enttäuschung sah man ihm allerdings an. Schon an diesem Mittwoch werde er als Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag wieder Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) gegenübersitzen, der wegen des Klimapakets, der Maut und des Dieselskandals in der Kritik steht.
Die Grünen hatten sich die Entscheidung nicht leicht gemacht: Die Sitzung am Dienstagnachmittag dauerte länger als erwartet. Jeder der vier Kandidaten wurde zunächst in mehreren Runden ausführlich befragt. Dabei waren sich die meisten Abgeordneten vorher längst sicher, wo sie ihr Kreuz in der geheimen Abstimmung machen wollten. Nur eine Handvoll Parlamentarier, so war zu hören, wollte die Entscheidung erst in der Sitzung treffen.
Özdemir und Kappert-gonther wurden vor der Wahl realistische Chancen ausgerechnet, denn viele Parlamentarier sind mit Hofreiter und Göring-eckardt unzufrieden, weil sie es nicht vermocht hatten, der Fraktion nach den gescheiterten Jamaika-verhandlungen Anfang 2018 neuen Schwung zu verleihen. Aufbruchstimmung, Geschlossenheit und hohe Umfragewerte werden fast ausschließlich den Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock zugeschrieben. Die Fraktionsvorsitzenden verblassen hinter ihnen.
Auch eine Fraktionsklausur nach der Sommerpause in Weimar brachte nicht den erhofften frischen Wind – im Gegenteil, mancher in der Fraktion sprach von einem „Volkshochschulkurs“, den Hofreiter und Göring-eckardt für die Abgeordneten bereitgehalten hätten. Viele hätten sich offenere, kontroversere Debatten gewünscht.
Unmut gab es aber auf der anderen Seite auch über Özdemir. Dass er die Kampfabstimmung wagte, dafür hatten viele in der Fraktion auch aus dem linken Flügel zwar Verständnis. Nur wenige warfen ihm intern vor, das Bild der Geschlossenheit wenige Wochen vor der nächsten Landtagswahl in Thüringen zu gefährden. Doch vergessen haben ihm viele Grüne nicht, „wie viel Unruhe er damals als Parteivorsitzender in den Laden gebracht hatte“, wie ein Abgeordneter sagte. Durch den ständigen Streit Özdemirs mit seiner damaligen Co-parteivorsitzenden Simone Peter hätten die Grünen deutlich schlechter abgeschnitten, als möglich gewesen wäre. Bei der Bundestagswahl 2017 erreichten sie mit Özdemir und Göring-eckardt als Spitzenkandidaten nur 8,9 Prozent.
Doch Özdemir gilt auch als der beste Redner seiner Fraktion. Für seine Wutrede am 22. Februar 2018, in der er die AFD attackierte, weil diese den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel nach seiner Freilassung aus türkischer Haft bestrafen wollte, erhielt der Schwabe mit türkischen Wurzeln die Auszeichnung „Rede des Jahres“.
Özdemir selbst hatte schon vor dem Scheitern der Jamaika-verhandlungen mit Union und FDP, in deren Verlauf er sich noch Hoffnungen auf das Außenministeramt machen konnte, seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur zum Parteivorsitzenden bekanntgegeben. Nach fast zehn Jahren an der Parteispitze war es Zeit für ihn zu gehen. Er verschwand in der zweiten Reihe der Fraktion. Zwar wurde er immerhin Vorsitzender des Verkehrsausschusses, doch die Rolle füllte ihn erkennbar nicht aus. Die Grünen bräuchten mehr „Wumms“im Bundestag, wenn sie etwa gegen geschickte Afd-rhetoriker wie Alexander Gauland anträten, meint Özdemir. Das traute er sich zu.
Zur Kampfkandidatur dürfte ihn auch bewogen haben, dass sein enger Vertrauter, Baden-württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (72), nach einigem Zögern entschieden hat, bei der nächsten Landtagswahl im Frühjahr 2021 zum dritten Mal anzutreten. Özdemir gilt als möglicher Nachfolger Kretschmanns im Ländle.
Der 53-Jährige hatte seit Wochen nach einer Fraktionskollegin vom linken Parteiflügel Ausschau gehalten, mit der er die Kampfkandidatur wagen konnte. Bei den Grünen ist die Regel, dass mindestens einer der beiden Fraktionschefs eine Frau sein muss – und mit Göring-eckardt konnte Özdemir kein Tandem bilden, weil sie wie er Vertreterin des Realo-flügels der Gemäßigten ist. Flügelproporz ist bei den Grünen ein wichtiges Kriterium.
Nach mehreren Absagen von anderen willigte die Bremer Psychotherapeutin Kappert-gonther ein, die erst seit 2017 im Bundestag sitzt. Als drogenpolitische Sprecherin konnte die 52-Jährige sich in der Öffentlichkeit bisher jedoch noch wenig profilieren. Mutig signalisierte sie aber, nicht bloß Stimmvieh für Özdemir sein zu wollen. Die Ärztin macht Sozialpolitik und engagiert sich vor allem für die Benachteiligten in der Gesellschaft.
Bei den Parteichefs Habeck und Baerbock war nach der Entscheidung ein Aufatmen herauszuhören: „Gemeinsam an einem Strang ziehen – das macht uns stark“, erklärten sie. Für Özdemir und Kappert-gonther gab es von beiden herzliche Umarmungen. Doch nach dieser Kampfabstimmung ist klar, dass die alte Ruhe bei den Grünen wohl vorüber ist.