Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Die Zeit der Euphorie war irgendwann vorbei“
Als sich die 1989 die Grenzen öffneten, war der heutige Außenminister Ungarns als Diplomat seines Landes zuständig für die DDR.
BERLIN Ungarns Botschafter protestiert gegen die Vorstellung, sein Land hätte 2015 bei einer Eskalation der Lage auf Flüchtlinge schießen können.
Herr Botschafter, Ihr Land hat vor 30 Jahren den Zaun zu Österreich geöffnet und Ddr-bürger entgegen den Absprachen mit Ost-berlin ausreisen lassen. Ein historischer Schritt. Sie waren 26 Jahre alt. Wo waren Sie damals?
GYÖRKÖS Ich war als junger Diplomat im ungarischen Außenministerium. Zuständig für die DDR. Die Zaunöffnung war ein Test: Wie reagiert die Sowjetunion darauf? Sie hatte damals noch fast 100.000 Soldaten auf ungarischem Boden. Dass Generalsekretär Michail Gorbatschow nicht eingreifen ließ, war für mich der Beweis, dass er die Entwicklung nicht aufhalten wird. Er hätte die Grenzöffnung in Ungarn verhindern können. Das hätte bedeutet: Deutschland bleibt geteilt und Ungarn unterdrückt. Er erkannte aber die Souveränität Ungarns an, und damit wurde mein Land Teil der deutschen Wiedervereinigung.
Aber hatte die ungarische Regierung vermutet, dass wenig später die Mauer fallen würde?
GYÖRKÖS Wir hatten uns kurz zuvor der Genfer Flüchtlingskonvention angeschlossen. Sie stand in der völkerrechtlichen Hierarchie höher als ein bilaterales Visa-abkommen aus dem Jahr 1969, das eine Sperrklausel für die Ausreise von Ddr-bürgern über Ungarn vorsah. Dieses Abkommen hatte dazu geführt, dass die Berliner Mauer verlängert wurde. In einer diplomatischen Note teilten wir im September 1989 der DDR mit: Über Ungarn können die DDR-BÜRger ausreisen. Aber, dass die Mauer schon zwei Monate später fallen und es zu einer neuen Weltordnung kommen würde, war für uns nicht in diesem Tempo so schnell abzusehen.
Was ist passiert, dass sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Ungarn, zwischen Ministerpräsident Viktor Orbán und Bundeskanzlerin Angela Merkel später so verschlechtert hat und dieser gemeinsame Teil der Geschichte nicht zu einer krisenfesten Partnerschaft geführt hat?
GYÖRKÖS Das Verhältnis ist nicht schlecht geworden, sondern wir haben an einem Punkt einen realen Konflikt gehabt. Aber in den letzten Monaten haben wir riesengroße Schritte gemacht, diesen Konflikt aufzulösen. Wir Ungarn respektieren unsere Deutschen Freunde nicht nur. Wir mögen sie sogar. Es leben 200.000 Deutsche in Ungarn. Die Zahl der deutschen Schulen hat sich in Ungarn in den letzten zehn Jahren verfünffacht. Wir haben eine historische Freundschaft...
… die sehr gelitten hat bis zur Sprachlosigkeit zwischen den beiden Regierungschefs.
GYÖRKÖS Die Zeit der Euphorie war irgendwann vorbei. Nach der Wiedervereinigung und der Eu-erweiterung kamen die kalten Tage der Realität: Finanzkrise, Krim-annexion, Flüchtlingskrise. 2015 landeten dann Ungarn und Deutschland zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahrzehnten im Fokus europäischer Geschichte. Nur unter einem anderen Vorzeichen.
1989 haben sie einen Zaun geöffnet und 2015 einen Zaun gezogen. GYÖRKÖS Viele in Deutschland wollen nicht wahrnehmen, was der fundamentale Unterschied zwischen einem Eisernen Vorhang und einem Zaun an der Grünen Außengrenze ist. Der Unterschied ist: 1989 gab es eine Gefängnistür und 2015 ein Gartentor. Die Mauer hatte die Bürger eingesperrt, der Zaun an der ungarischen Eu-außengrenze ermöglicht die Kontrolle, wer reinkommt.
Es kam aber zum Bruch zwischen Herrn Orbán und Frau Merkel, als diese in der Nacht auf den 5. September mit Österreichs damaligem Kanzler Faymann die Aufnahme von Flüchtlingen beschloss, die sich von Budapest aus in Richtung österreichische Grenze aufgemacht hatten.
GYÖRKÖS Diese Menschen, von denen sie sprechen, waren in Ungarn per Definition keine Flüchtlinge mehr. Das ist eine Ignorierung der Geografie und des Völkerrechts. Sie waren Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze, falls sie Syrer waren. Schon in der Türkei war ihr Leben aber nicht mehr in Gefahr. Danach waren sie illegale Migranten. Sie haben sich nicht bei den Behörden gemeldet und sich nicht identifiziert. Sie haben selbst beschlossen, dass sie nach Deutschland gehen. Und dies wird als Kampf des Guten gegen das Böse dargestellt.
Warum haben Herr Orbán und Frau Merkel an jenem Abend nicht miteinander telefoniert, als sich die Lage zuspitzte?
GYÖRKÖS Die Lage hatte sich doch schon Wochen vorher zugespitzt. Das deutsche Innenministerium hatte Mitte August die Prognose für die ankommenden Migranten von 400.000 auf 800.000 in dem Jahr heraufgesetzt. Viktor Orbán hatte schon im Juni auf Eu-ebene die Frage gestellt: Wollt Ihr die Einhaltung des Schengen-abkommens, wonach Ungarn die Eu-außengrenze schützt, oder wollt Ihr einen Korridor, durch den täglich zehntausende Migranten kommen, die in die Mitte der EU wollen. Die Antwort war: Kein Korridor! Alle wollten die Einhaltung des Schengen-abkommens – aber ohne Zaun. Es ging aber nur eins von beiden: Korridor oder Zaun. Der Zaun diente der Erfüllung unserer vertraglichen Pflicht, Europa und auch Deutschland zu schützen. Und auch die ungarischen
Grenzbeamten, die attackiert wurden, und den Waffengebrauch bewusst gemieden haben.
Hätten Sie sich eine Situation vorstellen können, in der die Gefahr dazu bestanden hätte? Darüber war damals auch spekuliert worden.
GYÖRKÖS Ah, kommen Sie! Das ist erniedrigend, beleidigend, frustrierend! Wir wissen: Die Deutschen sind romantisch, sie mögen keine schlechten Bilder. In München wurden die Flüchtlinge dann mit Blumen und Plüschtierchen empfangen…
Wie geht es denn jetzt zwischen Ungarn und Deutschland weiter? Wir haben Ihrem Land die Zaunöffnung vor 30 Jahren zu verdanken, die ein Vorbote für den Mauerfall war. Wo können wir wieder anknüpfen?
GYÖRKÖS Wir sollten aufhören, den Feind innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu suchen. Und: Jeder verdient Respekt. Jeder. Und keiner weiß alles.