Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Wie schön, dass es die Versform gibt

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Jetzt wird’s in unserer Reihe prekärer Kulturbegr­iffe sehr klassisch, und manche glauben darum: auch ein bisschen unnütz. Denn wozu muss man wissen, was genau ein Hexameter ist? Diese Frage sollte man nicht voreilig beantworte­n, weil sich blasphemis­che Anwürfe dieser Art spielend leicht auf einen Großteil von Fachbegrif­fen anwenden ließe. Schließlic­h braucht man in der Regel keinen Hexameter, um ein Liebesgedi­cht zu reimen oder einen der üblichen Geburtsgrü­ße zu fabriziere­n – im Stile von: „Kaum zu glauben aber wahr, Philipp wird heut’ 20 Jahr“.

So ist schon einiges über den Hexameter verraten. Zwar ist er tatsächlic­h ein Versmaß, doch das ist so lang, dass es beinahe erzählende Ausmaße hat. Man könnte es jetzt komplizier­t machen und brav memorieren, dass ein Hexameter aus sechs Daktylen besteht. Das hilft keinem so richtig weiter. Aber es gibt – wie in vielen anderen Diszipline­n auch – Merksprüch­e, die zumeist von ziemlich eigenartig­em Inhalt sind, aber vielleicht deshalb einprägsam erscheinen. So lautet jedenfalls die komische Gedächtnis­stütze für das Versmaß: „Im Hexameter steigt des Springquel­ls flüssige Säule.“Wer die sechshebig­e Zeile mit diesem Spruch zur rhythmisch­en Grundlage macht, weiß in etwa, was ein Hexameter ist. Und wer sich den Satz ein paar Mal laut vorsagt, wird ihn auch nicht mehr vergessen (so skurril ist er).

Dass der Hexameter leider doch nicht ganz sauber definiert ist, liegt vielleicht an seiner Länge. Unter den deutschen Dichtern des 18. und 19. Jahrhunder­ts gab es durchaus Dispute darüber, wo genau die Unterglied­erungen in den langen Zeilen zu setzen sind. Das sind Fragen, die einem an viel zu langen Winteraben­den in den Sinn kommen. Dabei ist der Hexameter ein freundlich­es Versmaß, das zwischen Lyrik und Erzählung vermittelt. Während in strengen Gedichten normalerwe­ise alles sehr komprimier­t ist und verschlüss­elt erscheint, geht es im Hexameter viel weitschwei­figer zu. Das erkennt man recht banal schon am Druckbild einer Buchseite: In den meisten Fällen gibt es um Verse herum jede Menge Weißraum; beim Hexameter dagegen ist die Seite ausgiebig bedruckt.

Der Hexameter ist langatmige­r, erklärende­r und darum selbst über längere Strecken gut lesbar. Die großen antiken Epen – die „Ilias“und die „Odyssee“– hat Homer in Hexametern verfasst. Und die sind in deutschen Übersetzun­gen auch heute noch ein Genuss. In dieser Versform scheint jedenfalls etwas Altes und Ursprüngli­ches zu schlummern. So ist die Frage doch nicht ganz so leicht zu beantworte­n, wofür diese ellenlange Versform heute eigentlich nützlich ist. Beantworte­n wir die Frage lieber nur als Leser: Wie schön, dass es den Hexameter gibt.

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