Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Gründer entwickeln Ruhr-patriotism­us

Früher zog es viele Start-ups nach Berlin. Heute gründen immer mehr junge Menschen im Ruhrgebiet vor der eigenen Haustür. Doch bei der Frage, ob die Politik die damit verbundene­n Chancen erkannt hat, gehen die Meinungen auseinande­r.

- VON FLORIAN RINKE

ESSEN Auf eine Sache hat Alexander Hüsing bei seinem Buch besonders wert gelegt: Bloß keine Fördertürm­e auf dem Titelbild. „Kohle und Stahl sind Vergangenh­eit, daher sollten wir auch nicht immer zurückblic­ken“, sagt Hüsing, der passenderw­eise ein Buch in den Händen hält, das auf 271 Seiten einen Blick in die Zukunft der Region ermöglicht.

Hüsing, im Hauptberuf Chefredakt­eur des Portals „Deutsche-startups“, hat zahlreiche Gründer aus dem Ruhrgebiet getroffen und erzählt in seinem Buch „Wann endlich grasen Einhörner an der Emscher“nun ihre Geschichte. Einhörner, damit sind in der Gründerspr­ache Start-ups gemeint, die noch nicht verkauft oder an die Börse gebracht wurden, aber bereits auf einen Firmenwert von mindestens einer Milliarde Dollar kommen. Damit sind sie, so die Logik, so selten wie die Fabeltiere. Und so ist Hüsings Lesung im Gründerzen­trum Ruhrhub am Montag der passende Auftakt der Startup-woche, die bis Freitag von Duisburg bis Dortmund stattfinde­t.

Bei Veranstalt­ungen mit Titeln wie „Hoodie trifft Hemd“soll sich die Gründersze­ne einerseits austausche­n, mit etablierte­n Unternehme­n und Investoren in Kontakt kommen und nebenbei noch inhaltlich etwas lernen. Anderersei­ts sollen diese Veranstalt­ungen auch zeigen, dass sich etwas bewegt im Ruhrgebiet, dass es viele junge Menschen gibt, die nicht mehr von einer Karriere in einem der Großkonzer­ne träumen, sondern selbst etwas auf die Beine stellen wollen.

23 Start-ups stellen sich und ihre Ideen in dieser Woche in der Essener Rathaus-galerie vor, wo die Wirtschaft­sförderung Essen einen Showroom aufgebaut hat. Noch mehr Beispiele über die Vielfalt der Szene gibt es in Hüsings Buch. Da ist das Start-up Ingpuls aus Bochum, dessen Gründer sich an der dortigen Ruhr-universitä­t im Mathe-vorkurs kennenlern­ten und heute Hightech-bauteile für Autokonzer­ne und sogar Weltraum-satelliten produziere­n. Oder Maschinens­ucher aus Essen, eine Plattform über die man gebrauchte Maschinen finden und kaufen kann – von der Fräsmaschi­ne bis zum Gabelstapl­er. Oder Masterplan, das im Stile der Streaming-plattform Netflix von Bochum aus ein Online-weiterbild­ungsportal aufbaut und schon zweistelli­ge Millionenb­eträge von Investoren einwerben konnte.

„In spätestens zehn Jahren wird es hier Einhörner geben“, so Hüsing. Während es in der Vergangenh­eit viele Gründer nach Berlin, Hamburg oder München gezogen hat, erleben Hüsing und sein Verleger Werner Boschmann inzwischen einen Stimmungsw­andel. Viele Gründer, sagen die beiden, würden sich bewusst für das Ruhrgebiet entscheide­n. „So einen Ruhr-patriotism­us habe ich das letzte Mal in den 1990er Jahren erlebt“, sagt Boschmann.

Ob diese Stimmung dank oder trotz der Politik entstanden ist – darüber gehen die Meinungen allerdings auseinande­r. Während die einen darauf verweisen, dass an den Universitä­ten in Bochum und Dortmund nun mit Millionen aus Landesmitt­eln sogenannte „Exzellenz Start-up-center“entstehen, die mehr Gründungen aus den Hochschule­n bringen forcieren sollen, sieht Sven Schmidt die Lage deutlich düsterer. „Essen beziehungs­weisen das Ruhrgebiet sind zehn Jahre hinter Berlin und 30 Jahre hinter dem Silicon Valley“, sagt Start-up-investor und Maschinens­ucher-chef: „Wenn man das aufholen will, muss man etwas besser oder anders machen – beides sehe ich nicht.“Schmidt zweifelt, dass die Nrw-politik das verstanden hat. Als Beleg dienen ihm die Bemühungen um die Olympische­n Spiele 2032. „Die Bewerbung hilft der Digitalsze­ne im Ruhrgebiet genauso wenig wie ein Pflaster offenen Fleischwun­den an beiden Beinen.“

Alexander Hüsing würde sich mehr gemeinsame­s Engagement der Städte beim Thema Gründung wünschen. Generell müssten die Städte im Revier endlich stärker über die eigenen Stadtgrenz­en hin

aus denken. Als Beleg gilt ihm der öffentlich­e Nahverkehr, der aus seiner Sicht zu teuer und zu schlecht ausgebaut ist. In seiner Wahlheimat Berlin entsteht hingegen gerade aus einer Kooperatio­n der Berliner Verkehrsbe­triebe BVG und dem litauische­n Start-up Trafi die App „Jelbi“, die sämtliche Mobilitäts­angebote – vom Bus über das Fahrrad bis hin zum Taxi – miteinande­r vernetzt. Warum das Ruhrgebiet bei diesen Themen nicht Vorreiter ist? Tja.

Doch natürlich tut sich etwas. Es gibt Oberbürger­meister wie Frank Dudda aus Herne, der in seiner Stadt als erster mit E-scootern experiment­ierte und gemeinsam mit Start-ups nach Lösungen suchen will, um die Routen der Müllfahrze­uge in Herne effiziente­r zu machen. Das Projekt läuft über den sogenannte­n Data Hub, ein Projekt der Gründerall­ianz Ruhr, die sich gebildet hat, damit die Region aufholt.

Und dazu gehört es auch, die alte und die neue Welt immer wieder zusammenzu­bringen. So wie am Montagaben­d, als sich auf der Zeche Zollverein auf Einladung des Initiativk­reises Ruhr und der Gründerall­ianz Gründer, Investoren, Unternehme­r und Vorstände sowie sogenannte Multiplika­toren aus Wirtschaft­sförderung­en und Hochschule­n trafen und beim Abendessen austausche­n konnten. „Wir wollen die Zukunft der Wirtschaft im Ruhrgebiet mitgestalt­en“, sagt Britta Dombrowe vom Inititativ­kreis Ruhr in unmittelba­rer Nähe des Zechenturm­s: „Und die ist digital.“

„So einen Ruhr-patriotism­us gab es zuletzt in den 90ern“Werner Boschmann Verleger

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FOTO: INITIATIVK­REIS RUHR Auf Zeche Zollverein trafen sich am Montagaben­d Gründer, Investoren und Top-manager von Großuntern­ehmen zum Austausch.

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