Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die Geschichte der Bienen
Roman Folge 38
Allein der Gedanke daran, was nun kam, trieb mir noch Jahre später die Schamesröte ins Gesicht. „Die Ovarien sind also dasselbe wie die Eierstöcke … Also das Reproduktionssystem, in dem die Eier entstehen… die wiederum zu Larven werden.“
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wurde mir klar, wo ich mich hineinbegeben hatte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. „Und die Genitalien sind also dasselbe wie… äh, die reproduzierenden Organe der männlichen Biene. Diese sind unerlässlich im Prozess der… Produktion neuer Bienen.“
Ein Raunen ging durch den Saal, als sie verstanden, wovon sie da Zeichnungen sahen. Warum hatte ich nicht vorausgesehen, welchen Effekt dieses Thema auf sie haben würde? Für mich war es ein selbstverständlicher Teil der Naturwissenschaft, für sie hingegen etwas Sündiges, was man für sich behielt und worüber man niemals sprach. In ihren Augen war meine Leidenschaft mit Schmutz behaftet.
Aber keiner ging, keiner hielt mich auf. Hätte es bloß jemand getan. Doch lediglich ein paar gedämpfte Geräusche kündeten von der bevorstehenden Katastrophe, Hinterteile, die auf Holzbänken hin- und herrutschten, Stühle, die über den Boden scharrten, leises Räuspern. Thilda senkte den Kopf. Errötete sie? Ihre Freundinnen warfen sich amüsierte Blicke zu, und ich Rindvieh fuhr einfach fort, in der Hoffnung, der Rest meiner Rede würde die Aufmerksamkeit von den soeben gesagten Worten weglenken und hin zu dem, was wirklich wichtig war.
„Drei ganze Seiten hat er ihnen in seinem Lebenswerk, der Biblia Naturae oder auch Bibel der Natur gewidmet. Hier sehen wir einige seiner ungewöhnlich detaillierten Zeichnungen der Drohnen und ihrer… Geni… Genitalien.“Das Wort kam mir kaum noch über die Lippen. „Die verschiedenen Stadien, wie sie sich öffnen, entfalten und… zu ihrer vollen Größe expandieren.“Hatte ich das wirklich gesagt? Ein flüchtiger Blick ins Publikum verriet mir, dass dem so war. Ich zwang meinen Blick wieder auf das Manuskript und las weiter, obwohl ich es damit nur umso schlimmer machte.
„Swammerdam beschrieb sie selbst als… exotische Seeungeheuer.“
Jetzt kicherten die Freundinnen. Ich wagte es nicht, zu ihnen hinüberzusehen. Stattdessen nahm ich Swammerdams Werk zur Hand und zitierte die fabelhaften Worte, über die ich selbst so oft nachgesonnen hatte, ich klammerte mich an das Buch und hoffte, meine Zuhörer würden nun endlich nachvollziehen können, worin die wahre Leidenschaft bestand.
„Aus so wenigen Beispielen kann man ersehen, was für Wunder an den Insekten zu bemerken sein müssen, und wie dienlich uns die Untersuchung ihrer natürlichen Beschaffenheit zur Verherrlichung des göttlichen Rahmens sein könne, der große Dinge tut, die man nicht ergründen kann, und Wunder, die man nicht erzählen kann.“
Ich erdreistete mich aufzusehen, und mir wurde deutlich, ja, vollkommen klar, dass ich verloren hatte, denn die Gesichter, die mich anstarrten, waren im besten Fall erschüttert, im schlimmsten sogar erbost, und endlich verstand ich das ganze Ausmaß dessen, was ich getan hatte. Es war mir nicht im Entferntesten gelungen, ihnen von den Wundern der Natur zu berichten. Ich hatte hier oben gestanden und ihnen vom Niedersten des Niederen erzählt und noch dazu Gott in diese Sache mit hineingezogen.
Den Rest der Geschichte ließ ich aus. Der arme Swammerdam war anschließend zu nichts mehr im Stande gewesen und hatte seine Karriere beendet. Durch das Studium der Bienen war er in einen Strudel religiöser Grübeleien geraten, denn die Perfektion der Bienen erschreckte ihn, und er musste sich ständig in Erinnerung rufen, dass nur Gott allein – und nicht dieses kleine Wesen – seine Liebe und Aufmerksamkeit verdient hatte. Angesichts der Biene konnte man nur schwer glauben, dass es dort draußen etwas noch Perfekteres gab, nicht einmal Gott. Die fünf Jahre, die er beinahe im Bienenstock gelebt hatte, richteten ihn für immer zu Grunde.
Doch in diesem Moment sah ich ein, dass ich nicht nur das Gespött der Menschen auf mich ziehen würde, sondern auch ihren Hass, wenn ich ihnen das erzählte, denn den Allmächtigen forderte man nicht heraus.
Ich schob mein Manuskript zusammen, während mir die Röte ins Gesicht stieg, und als ich vom Podium steigen wollte, stolperte ich wie ein kleiner Junge. Rahm, den ich mit meinem Vortrag mehr hatte beeindrucken wollen als jeden anderen, musste sich offensichtlich das Lachen verkneifen, denn sein Gesicht war zu einem sonderbaren Grinsen erstarrt. Er erinnerte mich an meinen Vater, an meinen eigentlichen Vater.
Nach dem Vortrag schüttelte ich mehreren Anwesenden die Hand. Einige wussten nicht, was sie sagen sollten, und ich bemerkte, wie die Leute um mich herum tuschelten, einige kichernd und ungläubig, andere wütend und schockiert. Meine Röte wanderte vom Gesicht nach unten, kroch das Rückgrat entlang, setzte sich bis in die Beine fort und verwandelte sich in ein unkontrolliertes Zittern, das ich vergebens vor meiner Umgebung zu verbergen suchte. Zumindest Rahm musste es gesehen haben, denn er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte leise: „Sie sind im Trivialen gefangen, das müssen Sie verstehen. Sie werden nie so sein wie wir.“
Die Worte verfehlten ihre tröstende Wirkung, sie verdeutlichten nur umso mehr den Unterschied zwischen uns, denn er hätte niemals Beispiele gewählt, an denen sich das Publikum stieß. Er verstand genau, wie viel man ihnen zumuten konnte, er beherrschte die Balance zwischen uns und ihnen, und er wusste, dass die Welt der Wissenschaft und die Welt der Menschen zwei unterschiedliche Orte waren. Als wollte er dies und mein fehlendes Verständnis für die Zuhörerschaft noch einmal betonen, lachte er plötzlich. Es war das erste Mal, dass ich sein Lachen hörte, es war kurz und leise, aber ich erschrak dennoch. Ich wandte mich ab, konnte ihn nicht ansehen, sein Lachen wog zu schwer für mich, es nahm dem Trost all sein Gewicht, es brannte so stark in mir, dass ich mich wegdrehen und einen Schritt von ihm zurückweichen musste.
(Fortsetzung folgt)
© 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRUPPE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUNG: URSEL ALLENSTEIN