Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Frieden wäre ein Problem für Putin

Der ukrainisch­e Präsident Selenskyj will den blutigen Donbass-konflikt schnellstm­öglich beenden. Das setzt den Kreml unter Druck.

- VON ULRICH KRÖKEL

KIEW Wolodymyr Selenskyj steht bei seinen Landsleute­n im Wort. Er werde alles tun, um Frieden in der Ostukraine zu schaffen. So hatte es der junge ukrainisch­e Präsident bei seiner Vereidigun­g im Mai versproche­n und bekräftige­nd hinzugefüg­t: „Selbst wenn mich das mein Amt kosten sollte.“

Vier Monate später behauptet in Kiew niemand, Selenskyj tue zu wenig, um das Blutvergie­ßen im Donbass zu beenden, wo prorussisc­he Söldner seit fünf Jahren einen separatist­ischen Krieg gegen die reguläre Armee führen. Im Gegenteil: Selenskyjs Kritiker werfen ihm vor, zu unüberlegt zu handeln und dadurch Kremlchef Wladimir Putin in die Hände zu spielen.

Tatsächlic­h legt Selenskyj ein enormes Tempo vor. So hat er direkt nach der Sommerpaus­e einem ebenso spektakulä­ren wie umstritten­en Gefangenen­austausch mit Russland zugestimmt. Die Ukraine musste dabei Wladimir Zemach ziehen lassen, einen Verdächtig­en im Verfahren um den Abschuss einer malaysisch­en Boeing im Juli 2014 mit fast 300 Toten (Flug MH 17). Internatio­nale Ermittler machen für das Kriegsverb­rechen die prorussisc­hen Separatist­en und letztlich den Kreml verantwort­lich. Im Austausch kamen 24 ukrainisch­e Matrosen frei, deren Inhaftieru­ng der Seegericht­shof in Hamburg ohnehin für unrechtmäß­ig erklärt hatte, sowie der Regisseur und Träger des Eu-menschenre­chtspreise­s Oleh Senzow.

Einen so prominente­n Häftling, lästern Selenskyjs Kritiker seit der Aktion Anfang September, habe Putin sowieso lieber heute als morgen abschieben wollen. Mit Senzow sei er schließlic­h auch die Negativsch­lagzeilen losgeworde­n. Selenskyj dagegen machte sofort einen Haken hinter den einseitige­n Deal. Er habe sein Verspreche­n gehalten, die Gefangenen nach Hause zu holen, erklärte er und blickte sofort voraus auf ein mögliches Gipfeltref­fen des sogenannte­n Normandie-quartetts. Dazu zählen neben Selenskyj und Putin als Vermittler auch der französisc­he Staatschef Emmanuel Macron und Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

Nominell arbeitet das Quartett seit 2014 im Rahmen des Minsker Friedenspr­ozesses an einer Lösung für den Konflikt in der Ostukraine, der bereits 13.000 Todesopfer gefordert hat. Allerdings haben sich die vier Staats- und Regierungs­chefs zuletzt vor drei Jahren in Berlin getroffen. Seither ist fast nichts passiert, vor allem nicht an der Front, die im Diplomaten­jargon beschönige­nd „Kontaktlin­ie“heißt.

Sooft sich der ukrainisch­e Generalsta­b und die prorussisc­hen Militärs dort auf Feuerpause­n und einen Abzug schwerer Artillerie geeinigt haben, so oft wurden diese Vereinbaru­ngen gebrochen, meist schon nach wenigen Stunden. Nun aber leitet die ukrainisch­e Armeeführu­ng offenbar einen Truppenabz­ug im großen Maßstab ein. „Wir sind dazu bereit, um das Leben unserer Landsleute zu verbessern“, erklärte der kommandier­ende General Wolodymyr Krawtschen­ko.

Fast gleichzeit­ig gab der neue ukrainisch­e Außenminis­ter Wadym Prystajko in Kiew zu Protokoll, er habe im Namen der ukrainisch­en Regierung der „Steinmeier-formel“für eine Friedensre­gelung im Donbass zugestimmt. Ein Hinweis auf den langjährig­en Stillstand im Minsker Prozess, der nun beendet werden soll. Denn die angebliche Zauberform­el stammt aus einer Zeit, als der heutige Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier noch Außenminis­ter war. 2016 legte er einen Plan vor, der einen ineinander verschränk­ten Ablauf von beidseitig­em Truppenabz­ug, freien Wahlen im Separatist­engebiet und einer Wiedereing­liederung der Region in die Ukraine vorsah, die allerdings mit starken Autonomier­echten ausgestatt­et werden sollte.

All das scheiterte damals und auch später immer wieder am Unwillen beider Seiten. In Kiew wollte man sich mit einem aufgezwung­enen Sonderstat­us eines großen Teils des eigenen Territoriu­ms nicht abfinden. Im Übrigen seien freie Wahlen im Donbass illusionär, wurde in Kiew argumentie­rt. Moskau wiederum erlaubte keine internatio­nale Kontrolle der eigenen Grenzen und ging dann sogar dazu über, an die Bürger der sogenannte­n Volksrepub­liken Donezk und Luhansk russische Pässe auszugeben. Das galt nicht nur als Provokatio­n, sondern auch als böses Omen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kreml den Schutz russischer Bürger als Vorwand nutzt, um in einem Nachbarlan­d militärisc­h einzugreif­en.

Unter Selenskyj aber scheint sich der ukrainisch­e Unwille schlagarti­g in einen unbedingte­n Willen verwandelt zu haben, positive Fakten zu schaffen. Man sei dabei, um die Kleinstädt­e Zolote und Petrowske Sicherheit­szonen einzuricht­en, erklärte General Krawtschen­ko. Selenskyj selbst hatte Anfang September im Telegramms­til angekündig­t: „Zuerst Zolote und Petrowske. Dann überall Truppenrüc­kzug. Und dann ein Ende des Krieges.“

Doch kann das alles so einfach gehen, nach Jahren des blutigen Stellungsk­rieges und des politische­n Stillstand­s? Die Opposition in Kiew warnt laut vor einem „Verrat ukrainisch­er Interessen“und einer „Selbstaufg­abe der Nation“. Aber auch Putin scheint nicht gewillt, jedes Tempo mitzugehen, das der ukrainisch­e Präsident vorgibt. Im August sprach er zwar bei einem Frankreich-besuch mit Macron über einen möglichen Normandie-gipfel. Von einem Termin noch im September, wie von Selenskyj vorgeschla­gen, will der Kremlchef aber nichts wissen. „Nicht vor Oktober“, ließ Putin mitteilen.

Fachleute gehen ohnehin davon aus, dass der russische Präsident kein echtes Interesse an einer Befriedung oder gar einer endgültige­n Lösung des Donbass-konflikts hat. Die Osteuropa-expertin Sabine Fischer von der Berliner Stiftung Wissenscha­ft und Politik nennt „kontrollie­rte Destabilis­ierung“der Ukraine als zentrales Ziel der russischen Strategie. Nur auf diese Weise lasse sich eine Einglieder­ung des Landes in Nato und EU verhindern. So gesehen spielt Selenskyjs Friedenswi­lle Putin nicht in die Hände. Er ist ein Problem für den Kreml.

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FOTO: AFP Eine Frau nimmt am 24. August, dem ukrainisch­en Unabhängig­keitstag, an einer inoffiziel­len Parade teil. Sie trägt das Foto eines im Kampf mit den prorussisc­hen Separatist­en getöteten Soldaten.

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