Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Der Meister der Kehrtwende
ANALYSE Vor einem Jahr setzte Seehofer in der Flüchtlingspolitik auf Abschreckung. Heute macht er das Gegenteil. So wäre es zu dem Zerwürfnis mit Merkel nie gekommen. Die Frage ist nur, wie lange er den neuen Kurs halten wird.
Angela Merkel führt ihre Ausdauer auf „kamelartige Fähigkeiten“zurück. Sie verfüge über eine gewisse Speicherfähigkeit, erzählte sie einmal. Vielleicht besitzt ihr lange Zeit schärfster Widersacher, Horst Seehofer, dann chamäleonartige Fähigkeiten. Die faszinierenden Reptilien sind Verwandlungskünstler, je nach Lage können sie Gestalt und Farbe ändern.
CSU-MANN Seehofer ist ein Meister der Kehrtwende. Vor der bayerischen Landtagswahl 2018 etwa hatte er darauf gepocht, Flüchtlinge an der bayerisch-österreichischen Grenze zurückzuweisen, wenn die trotz eines Aufenthaltsverbots wieder einreisen wollten. Bei einem Treffen mit dem darüber wenig begeisterten österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz wollte Seehofer dann von seiner Idee nichts wissen, um sie kurze Zeit später doch umzusetzen. Es ging um eine einstellige Zahl von Flüchtlingen pro Monat.
Aber Seehofer wollte ein Signal der Abschreckung senden. So wie mit seinem gegen Merkel verfolgten Kurs der Obergrenze für Flüchtlinge. Seehofer, der Minister der harten Linie und klaren Kante. Er dachte wohl, dass er die Umfragewerte für seine Partei verbessern und die AFD auf Abstand halten könnte. Konservative in der Union liebten ihn dafür. Doch seine Strategie ging nicht auf. Die CSU verlor in Bayern, die AFD gewann bundesweit hinzu.
Nun setzt er eine andere Botschaft. Eine für das europäische „Wertefundament“, wie der Katholik sagt, der die CSU von 2008 bis Januar 2019 als Vorsitzender führte. Am Dienstag warb der Bundesinnenminister in Luxemburg bei seinen Eu-amtskollegen um Unterstützung für Seenotrettung und Verteilung von Bootsmigranten. Vor zwei Wochen hatte er sich überraschend mit Italien, Frankreich und Malta im maltesischen Vittoriosa auf eine Übergangslösung geeinigt. Danach sollen für sechs Monate alle Migranten, die vor Italien und Malta gerettet werden, innerhalb von vier Wochen auf Eu-staaten verteilt werden, die dem Pakt beitreten. Deutschland soll nach Seehofers Willen ein Viertel der betroffenen Menschen aufnehmen. Zuletzt mussten sie oft bis zur Erschöpfung an Bord von Rettungsschiffen ausharren, weil diese nicht in die Häfen von Italien und Malta einfahren durften. Seehofer nun ein Mann der Menschlichkeit, ein Mann mit Herz.
Warum jetzt? Hat Merkel ihn bekehrt? Hat er seine Rolle des Scharfmachers, der dem Anschein nach phasenweise die AFD rechts überholen wollte, kritisch hinterfragt? Ist der 70-Jährige altersmilde oder altersweise geworden?
2016 hatte Seehofer als damaliger bayerischer Ministerpräsident der Bundeskanzlerin wegen deren humanitärer Flüchtlingspolitik eine „Herrschaft des Unrechts“vorgeworfen. Verklagen wollte er sie sogar. Die beiden konnten sich nicht mehr ausstehen und ertrugen einander nicht im selben Raum. Die Arbeit in der Union und in der großen Koalition litt darunter. Die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU und fast die ganze Regierung wären daran beinahe zerbrochen. Hört man Seehofer heute sagen, dass es „unglaublich“sei, sich für die Rettung von Menschen vor dem Ertrinken rechtfertigen zu müssen, fühlt man sich an Merkel erinnert. Sie hatte auf der Höhe der Flüchtlingskrise für ihre Verhältnisse ungewöhnlich emotional gemahnt, wenn man sich noch dafür entschuldigen müsse dafür, in Notsituationen ein freundliches Gesicht zu zeigen, dann sei das nicht ihr Land.
Vier Jahre liegen zwischen den beiden Sätzen des langjährigen Csu-chefs und der langjährigen Cdu-vorsitzenden. Beide haben ihren Parteivorsitz inzwischen an Nachfolger übergeben. Ihre jahrzehntelangen politischen Karrieren neigen sich dem Ende zu. Merkel hat dann irgendwann gesagt, dass sich ein Jahr wie 2015 mit der Aufnahme von fast einer Million Flüchtlingen nicht wiederholen dürfe. Genugtuung für Seehofer. Im Frühjahr hatte Merkels Nachfolgerin Annegret Kramp-karrenbauer erklärt, notfalls müssten die Grenzen geschlossen werden. Die CSU jubelte, im Kanzleramt zuckten sie zusammen. Das war ein Bruch mit Merkels Linie, die eisenhart die Haltung vertritt, dass die deutsche Grenze schon rein praktisch nicht geschlossen werden könne. Nun sind die Merkel-anhänger von Seehofers Kehrwende begeistert – und die Konservativen von ihm tief enttäuscht. National und international.
Csu-landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte Seehofer immer bei den Signalen der Abwehr unterstützt. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der einen Zaun an der ungarischen Eu-außengrenze gegen Flüchtlinge hochzog, hatte Einladungen von Seehofer dankbar angenommen und sich verstanden gefühlt. Das war einmal. Ungarn will keine Flüchtlinge aufnehmen und erst recht keine Quoten erfüllen. Seehofer ist nun plötzlich auf der anderen Seite. In Luxemburg bekam er zu spüren, dass Eu-partner gegen ihn sind. Heute findet er es beschämend, wie darüber gestritten wird, dass Deutschland in den vergangenen 14 Monaten 225 aus Seenot gerettete Flüchtlinge aufgenommen hat. Selten habe er in seiner politischen Laufbahn eine derart „schräge“Diskussion erlebt. Beschämend fanden viele vor einem Jahr jedoch auch Seehofers Bestehen auf Zurückweisungen von einigen wenigen Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich.
Seehofer, das Arbeiterkind, ist ein Mann mit Gespür für die sogenannten kleinen Leute. Das C im Namen seiner Partei hat für ihn eine hohe Bedeutung. Angesichts seiner jetzigen Flüchtlingspolitik fragt man sich, wie es zu dem Zerwürfnis mit Merkel kommen konnte. Sollten aus Hunderten Bootsmigranten allerdings Tausende werden, würde er die Malta-vereinbarung wieder aussetzen, sagt Seehofer. Das darf man nicht vergessen: Er ist ein Verwandlungskünstler.
Hört man Seehofer heute sagen, dass es „unglaublich“sei, sich für die Rettung von Menschen zu rechtfertigen, fühlt man sich an Merkel erinnert