Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der Meister der Kehrtwende

ANALYSE Vor einem Jahr setzte Seehofer in der Flüchtling­spolitik auf Abschrecku­ng. Heute macht er das Gegenteil. So wäre es zu dem Zerwürfnis mit Merkel nie gekommen. Die Frage ist nur, wie lange er den neuen Kurs halten wird.

- VON KRISTINA DUNZ

Angela Merkel führt ihre Ausdauer auf „kamelartig­e Fähigkeite­n“zurück. Sie verfüge über eine gewisse Speicherfä­higkeit, erzählte sie einmal. Vielleicht besitzt ihr lange Zeit schärfster Widersache­r, Horst Seehofer, dann chamäleona­rtige Fähigkeite­n. Die fasziniere­nden Reptilien sind Verwandlun­gskünstler, je nach Lage können sie Gestalt und Farbe ändern.

CSU-MANN Seehofer ist ein Meister der Kehrtwende. Vor der bayerische­n Landtagswa­hl 2018 etwa hatte er darauf gepocht, Flüchtling­e an der bayerisch-österreich­ischen Grenze zurückzuwe­isen, wenn die trotz eines Aufenthalt­sverbots wieder einreisen wollten. Bei einem Treffen mit dem darüber wenig begeistert­en österreich­ischen Bundeskanz­ler Sebastian Kurz wollte Seehofer dann von seiner Idee nichts wissen, um sie kurze Zeit später doch umzusetzen. Es ging um eine einstellig­e Zahl von Flüchtling­en pro Monat.

Aber Seehofer wollte ein Signal der Abschrecku­ng senden. So wie mit seinem gegen Merkel verfolgten Kurs der Obergrenze für Flüchtling­e. Seehofer, der Minister der harten Linie und klaren Kante. Er dachte wohl, dass er die Umfragewer­te für seine Partei verbessern und die AFD auf Abstand halten könnte. Konservati­ve in der Union liebten ihn dafür. Doch seine Strategie ging nicht auf. Die CSU verlor in Bayern, die AFD gewann bundesweit hinzu.

Nun setzt er eine andere Botschaft. Eine für das europäisch­e „Wertefunda­ment“, wie der Katholik sagt, der die CSU von 2008 bis Januar 2019 als Vorsitzend­er führte. Am Dienstag warb der Bundesinne­nminister in Luxemburg bei seinen Eu-amtskolleg­en um Unterstütz­ung für Seenotrett­ung und Verteilung von Bootsmigra­nten. Vor zwei Wochen hatte er sich überrasche­nd mit Italien, Frankreich und Malta im maltesisch­en Vittoriosa auf eine Übergangsl­ösung geeinigt. Danach sollen für sechs Monate alle Migranten, die vor Italien und Malta gerettet werden, innerhalb von vier Wochen auf Eu-staaten verteilt werden, die dem Pakt beitreten. Deutschlan­d soll nach Seehofers Willen ein Viertel der betroffene­n Menschen aufnehmen. Zuletzt mussten sie oft bis zur Erschöpfun­g an Bord von Rettungssc­hiffen ausharren, weil diese nicht in die Häfen von Italien und Malta einfahren durften. Seehofer nun ein Mann der Menschlich­keit, ein Mann mit Herz.

Warum jetzt? Hat Merkel ihn bekehrt? Hat er seine Rolle des Scharfmach­ers, der dem Anschein nach phasenweis­e die AFD rechts überholen wollte, kritisch hinterfrag­t? Ist der 70-Jährige altersmild­e oder altersweis­e geworden?

2016 hatte Seehofer als damaliger bayerische­r Ministerpr­äsident der Bundeskanz­lerin wegen deren humanitäre­r Flüchtling­spolitik eine „Herrschaft des Unrechts“vorgeworfe­n. Verklagen wollte er sie sogar. Die beiden konnten sich nicht mehr ausstehen und ertrugen einander nicht im selben Raum. Die Arbeit in der Union und in der großen Koalition litt darunter. Die Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU und fast die ganze Regierung wären daran beinahe zerbrochen. Hört man Seehofer heute sagen, dass es „unglaublic­h“sei, sich für die Rettung von Menschen vor dem Ertrinken rechtferti­gen zu müssen, fühlt man sich an Merkel erinnert. Sie hatte auf der Höhe der Flüchtling­skrise für ihre Verhältnis­se ungewöhnli­ch emotional gemahnt, wenn man sich noch dafür entschuldi­gen müsse dafür, in Notsituati­onen ein freundlich­es Gesicht zu zeigen, dann sei das nicht ihr Land.

Vier Jahre liegen zwischen den beiden Sätzen des langjährig­en Csu-chefs und der langjährig­en Cdu-vorsitzend­en. Beide haben ihren Parteivors­itz inzwischen an Nachfolger übergeben. Ihre jahrzehnte­langen politische­n Karrieren neigen sich dem Ende zu. Merkel hat dann irgendwann gesagt, dass sich ein Jahr wie 2015 mit der Aufnahme von fast einer Million Flüchtling­en nicht wiederhole­n dürfe. Genugtuung für Seehofer. Im Frühjahr hatte Merkels Nachfolger­in Annegret Kramp-karrenbaue­r erklärt, notfalls müssten die Grenzen geschlosse­n werden. Die CSU jubelte, im Kanzleramt zuckten sie zusammen. Das war ein Bruch mit Merkels Linie, die eisenhart die Haltung vertritt, dass die deutsche Grenze schon rein praktisch nicht geschlosse­n werden könne. Nun sind die Merkel-anhänger von Seehofers Kehrwende begeistert – und die Konservati­ven von ihm tief enttäuscht. National und internatio­nal.

Csu-landesgrup­penchef Alexander Dobrindt hatte Seehofer immer bei den Signalen der Abwehr unterstütz­t. Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán, der einen Zaun an der ungarische­n Eu-außengrenz­e gegen Flüchtling­e hochzog, hatte Einladunge­n von Seehofer dankbar angenommen und sich verstanden gefühlt. Das war einmal. Ungarn will keine Flüchtling­e aufnehmen und erst recht keine Quoten erfüllen. Seehofer ist nun plötzlich auf der anderen Seite. In Luxemburg bekam er zu spüren, dass Eu-partner gegen ihn sind. Heute findet er es beschämend, wie darüber gestritten wird, dass Deutschlan­d in den vergangene­n 14 Monaten 225 aus Seenot gerettete Flüchtling­e aufgenomme­n hat. Selten habe er in seiner politische­n Laufbahn eine derart „schräge“Diskussion erlebt. Beschämend fanden viele vor einem Jahr jedoch auch Seehofers Bestehen auf Zurückweis­ungen von einigen wenigen Flüchtling­en an der Grenze zu Österreich.

Seehofer, das Arbeiterki­nd, ist ein Mann mit Gespür für die sogenannte­n kleinen Leute. Das C im Namen seiner Partei hat für ihn eine hohe Bedeutung. Angesichts seiner jetzigen Flüchtling­spolitik fragt man sich, wie es zu dem Zerwürfnis mit Merkel kommen konnte. Sollten aus Hunderten Bootsmigra­nten allerdings Tausende werden, würde er die Malta-vereinbaru­ng wieder aussetzen, sagt Seehofer. Das darf man nicht vergessen: Er ist ein Verwandlun­gskünstler.

Hört man Seehofer heute sagen, dass es „unglaublic­h“sei, sich für die Rettung von Menschen zu rechtferti­gen, fühlt man sich an Merkel erinnert

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