Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Geschichte der Bienen

- von Maja Lunde

Roman Folge 49

Ich reichte die Schüsseln an Thilda weiter, dann kamen dem Alter nach die Kinder an die Reihe. Es freute mich, dass Edmund am ältesten war und sich direkt nach Thilda bedienen durfte, denn Jungen in diesem Alter brauchen vier Mal am Tag eine ordentlich­e Mahlzeit. Doch er nahm sich nur wenig und stocherte darin herum. Mir fiel auf, dass er außergewöh­nlich blass und dünn war, als käme er nie ans Tageslicht. Zittrige Hände hatte er auch, und Schweißper­len auf der Stirn. Kränkelte er?

Die Mädchen dagegen stürzten sich auf das Essen, das allerdings nicht für alle reichte. Als die kleine Georgiana endlich ihre Portion bekommen sollte, waren nur noch Reste übrig. Charlotte schob ihrer kleinen Schwester eine Kartoffel hinüber.

Wir aßen schweigend. Innerhalb weniger Minuten war das Essen von den Tellern der Mädchen verschwund­en.

Während der gesamten Mahlzeit spürte ich Thildas Blick auf mir. Sie brauchte nichts zu sagen, ich wusste allzu genau, was sie wollte.

George

Sobald es hell wurde, machte ich mich auf den Weg. Ich hatte ein paar Sandwiches und eine Thermoskan­ne mit Kaffee dabei und fuhr die ganze Strecke durch. Sieben geschlagen­e Stunden ohne Pause. Emma hatte ich nicht mehr gesehen. Nachdem ich mit der Lampe fertig geworden war, hatte ich mich für ein paar Stunden aufs Sofa gelegt. Sie war oben im Schlafzimm­er gewesen, vielleicht hatte sie geschlafen, vielleicht auch nicht. Ich hatte keine Lust gehabt, nachzusehe­n. Und keine Zeit. Nein, um die Wahrheit zu sagen, hatte ich mich nicht getraut.

Meine Augen waren leicht gerötet und brannten, aber ich dachte nicht im Entferntes­ten daran, zu schlafen. Für mich war es ein Klacks, all diese Meilen zu fahren. Ich war die ganze Zeit deutlich zu schnell, aber es herrschte nur wenig Verkehr, und Kontrollen gab es auch nicht.

Um genau 12:25 Uhr, laut der Uhr auf meinem Armaturenb­rett, fuhr ich mit Schwung vor dem Universitä­tsgebäude vor. Ich stellte mich auf einen Parkplatz, der für einen gewissen »Professor Stephenson« reserviert war, aber das juckte mich nicht. Dieser Stephenson, wer auch immer das war, sollte sich gefälligst eine andere Parklücke suchen.

Das Gebäude war aus rotem Backstein, was sonst, schließlic­h waren alle Lehranstal­ten aus rotem Backstein, und obwohl es nicht besonders alt war, sollte es ehrwürdig aussehen, hoch und breit und kastenförm­ig, mit weißen Fensterrah­men, und auf diese Weise wahrschein­lich an Harvard, und wie sie nicht alle hießen, erinnern. Respekt einflößen. Mich schreckte das nicht ab.

Ich war nicht mehr hier gewesen, seit wir Tom im vergangene­n Herbst hergebrach­t hatten. Wir hatten ihm dabei geholfen, sich in einem winzigen Zimmer einzuricht­en, das er mit einem kleinen, bebrillten Japaner teilen musste. Es hatte nach alten Socken und Hormonen gemüffelt. Die armen Jungs, sie hatten gar keinen Platz für sich. Aber das gehörte wohl dazu.

Ich stapfte hinein und kam an einer langen Reihe Messingsch­ilder mit den Namen der Stifter dieser Schule vorbei. Green Apiaries waren zum Glück nicht darunter. Daneben standen Vitrinen mit Pokalen, die die Studenten in mehr oder weniger albernen Wettkämpfe­n gewonnen hatten, und an den Wänden hingen Porträts von sauertöpfi­sch dreinschau­enden ehemaligen Rektoren. Allesamt Männer. Viele waren es nicht, die Hochschule war erst in den 197oer Jahren gegründet worden und konnte somit nicht mit einer langen Tradition aufwarten. Anschließe­nd gelangte ich in einen großen, runden Raum mit Steinboden, auf dem meine Schritte widerhallt­en. Ich ertappte mich beim Schleichen. Dabei hatte ich keinen Grund zum Leisetrete­n. Immerhin bezahlte ich für einen der Studienplä­tze, es war also nicht so, als gehörte ich hier nicht hin. In gewisser Weise war ich sogar Teilhaber dieser Schule.

Ich fragte nach Tom. Laut und deutlich. Ohne einleitend­e Phrasen.

Hinter dem Empfang hockte ein junger Typ mit Rastahaare­n. Er duckte sich hinter einen Bildschirm und sah in einem Register nach, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Der hat gerade eine Freistunde«, sagte er dann.

Anschließe­nd hämmerte er weiter auf seiner Tastatur herum, sicher spielte er irgendein Spiel, und das mitten in der Arbeitszei­t.

»Es ist dringend«, erwiderte ich. Er grunzte mürrisch. Seinen Job zu erledigen, war anscheinen­d nicht seine oberste Priorität.

»Versuchen Sie es mal in der Bibliothek.«

Tom saß über einige Bücher gebeugt und unterhielt sich mit zwei anderen Studenten. Eine Brünette, die ganz niedlich aussah, aber langweilig gekleidet war, und ein Junge mit Brille. Anscheinen­d waren sie in eine Diskussion vertieft, denn sie murmelten eindringli­ch, und er entdeckte mich nicht, ehe ich direkt vor ihm stand.

»Papa?!«

Er sagte es in leisem Ton, in diesem Tempel des Wissens durfte man seine Stimme anscheinen­d nicht erheben.

Die beiden anderen sahen ebenfalls auf und zogen eine Miene, als wäre ich eine brummende Fliege, die sich hierher verirrt hatte.

Aus irgendeine­m Grund hatte ich geglaubt, er wäre allein und würde einfach nur hier sitzen und auf mich warten, doch es schien ganz so, als lebte er ein eigenes Leben, zusammen mit Menschen, von denen ich keine Ahnung hatte, wer sie waren.

Ich hob die Hand zu einem unbeholfen­en Gruß.

»Hallihallo.«

Ich bereute es sofort. Hallihallo? So sprach doch kein Mensch.

»Du hier?«, fragte er.

»Jepp.«

Es wurde immer schlimmer. Jepp?! So konnte es nicht weitergehe­n. Ich wartete besser noch mit dem, was ich sagen wollte.

»Stimmt etwas nicht?« Er sprang auf. »Ist etwas mit Mama?«

»Nein, nein. Mama ist gesund wie ein junges Reh. Hehe.«

Heiliger Bimbam. Ich sollte einfach nur den Mund halten.

Er nahm mich mit in die Sonne. Wir setzten uns auf eine Bank. Der Frühling war hier schon weiter, die Luft schwer und warm. Überall um uns herum waren junge Men- schen. Collegetyp­en. Viele Brillen und Ledertasch­en.

(Fortsetzun­g folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRU­P

PE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUN­G: URSEL ALLENSTEIN

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