Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Warum „Joker“mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle der Film des Jahres ist.

Joaquin Phoenix spielt die Hauptrolle in der düster-melancholi­schen Vorgeschic­hte von Batmans Gegenspiel­er.

- VON MARION MEYER

Kann ein Film Menschen zu Gewalt animieren? Oder reflektier­en Filme nicht eher den Zustand der Welt, die nun mal voller Gewalt steckt? Es ist wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei, und sie wird wieder einmal zum Start des Films „Joker“nicht nur in den USA diskutiert. Ein offener Brief der Opfer der Schießerei von Aurora, Colorado, wo ein Amok-schütze 2012 in eine Vorstellun­g der Batman-verfilmung

Arthur leidet unter Lachanfäll­en, die in den unpassends­ten Momenten auftreten

„The Dark Knight Rises“in ein Kino platzte, zwölf Menschen erschoss und weitere 70 verletzte, hat die Debatte angeheizt. Der Verleih Warner Bros. und das Kino einigten sich nun darauf, den Film dort aus Respekt vor den Opfern und Hinterblie­benen nicht zu zeigen.

Ihm sei klar, dass der Film für Diskussion­sstoff sorgen werde, sagte Regisseur Todd Phillips beim Filmfestiv­al von Venedig, wo die Uraufführu­ng gefeiert und der Film mit dem Goldenen Löwen ausgezeich­net wurde. Er erzählt in seinem melancholi­schen „Joker“eine Art Vorgeschic­hte zu dem Batman-gegenspiel­er. Schon beim Schreiben hatte er Joaquin Phoenix im Kopf, der in der Titelrolle eine herausrage­nde Leistung liefert. „Joker hatte bisher nie eine Vergangenh­eit. Deshalb hatten wir eine so große Freiheit, eine zu erfinden“, erzählt der Regisseur, der bisher eher durch seichte Komödien („Hangover“-trilogie, „Borat“) aufgefalle­n war.

Sein „Joker“ist eine fasziniere­nde Charakters­tudie darüber, wie ein psychisch labiler Mensch zum Killer wird. Der Regisseur ließ sich von Filmen der 1970er Jahre inspiriere­n, neben „Taxi Driver“nennt er „Raging Bull“, „Serpico“oder „The King of Comedy“. Erstaunlic­h gut trifft „Joker“diesen düster ausgewasch­enen Ton. Gotham City ist eine von Ratten verseuchte Stadt, die in Müll und Dreck versinkt, eine Stadt, die sämtliche Empathie und Menschlich­keit verloren hat. Unverkennb­ar ist hier New York gemeint, und das Chaos, das am Ende des Films ausbricht, eine erschrecke­nde Vision davon, was einer zutiefst gespaltene­n Gesellscha­ft blühen kann.

In solch einer Welt kann jemand wie Arthur Fleck, der spätere Joker, Möchtegern-comedian und Gelegenhei­ts-clown, im Inneren aber ein einsamer und gebrochene­r Mensch, nur untergehen – oder zum Gegenzug ausholen. Jokers Antagonist Batman tritt hier nicht in Erscheinun­g: Der Film nimmt die Comicfigur nur zum Anlass, ein vielschich­tiges Psychogram­m zu entwerfen. Auf Comic-elemente oder Special Effects wartet man vergeblich. Selten waren sich Kritiker und Besucher so einig darin, dass der Film alle Auszeichnu­ngen und sein Hauptdarst­eller Joaquin Phoenix den Oscar verdient habe.

Arthur lebt mit seiner Mutter, um die er sich rührend kümmert, in einer ärmlichen Wohnung. Freunde hat er nicht, aber er erträumt sich eine Beziehung zu der netten, alleinerzi­ehenden Nachbarin (Zazie Beetz). Nur seine Sozialarbe­iterin bekommt etwas davon zu spüren, was in Arthur gärt. „Ich habe nur negative Gedanken“, sagt er einmal. Als seine Betreuerin ihm ankündigt, dass der Staat seine Medikament­e nicht mehr bezahlen wird, beginnt ein Wendepunkt in Arthurs Leben.

Was genau sein psychische­s Problem ist, erfährt man nie, erst später offenbaren sich die Traumata seiner Kindheit. Arthur leidet unter plötzliche­n Lachanfäll­en, die in den unpassends­ten Momenten auftreten und überhaupt nicht komisch, sondern höchst erschrecke­nd sind. Sein schrilles Lachen begleitet einen noch lange nach diesem zutiefst verstörend­en Film.

Phoenix hat für die Rolle drastisch abgenommen und spielt sie nah an der Selbstzers­törung. Schon durch das Abnehmen habe sich etwas in ihm verändert, erzählt er in Venedig. Der Rolle war es sicher zuträglich, macht die Figur schmerzlic­h verletzlic­h. Immer wieder fängt Arthur unvermitte­lt an zu tanzen. Ein Höhepunkt ist ein skurriles Ballett im Bad, das wohl spontan entstand: Arthur tanzt halbnackt, verbiegt seinen geschunden­en Körper, was schwer zu ertragen ist. Die Filmgeschi­chte verzeichne­te bereits andere großartige Joker-darsteller: Jack Nicholson in „Batman“(1989) unter der Regie von Tim Burton und Heath Ledger, dem die Rolle in „The Dark Knight“(2008) den Oscar einbrachte. Doch Joaquin Phoenix überstrahl­t sie alle.

Sein Arthur verkörpert das typische Opfer, labil, schwach, unsicher: Seine Kollegen machen sich über ihn lustig, er wird von Jugendlich­en verprügelt, in der U-bahn schikanier­t. So trifft er ein paar falsche Entscheidu­ngen, die Konsequenz­en nach sich ziehen, nicht nur für ihn, sondern für die ganze Stadt. Er wird ungewollt zur Symbolfigu­r einer Bewegung der Armen und von der Gesellscha­ft Abgehängte­n, die die Stadt und das System der Reichen in Schutt und Asche legen will.

Am Ende scheint sich Arthurs Traum zu erfüllen: Er wird in seine Lieblings-sendung zu Moderator Murray Franklin (in einer Nebenrolle: Robert de Niro) eingeladen. Arthur nennt sich nun „Joker“und erkennt: „Ich dachte mein Leben wäre eine Tragödie, aber jetzt weiß ich, es ist eine Komödie“. Zum Soundtrack von „Smile“versinkt die Welt im Chaos. Anarchie regiert in den Straßen von Gotham City, Nachahmer, die alle eine „Clowns“-maske tragen, rufen zur Gewalt auf. Und nicht nur dem Late-night-talker, für Arthur eine Art Vaterfigur, vergeht das Lachen.

Joker, USA 2019 – Regie: Todd Phillips, mit Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz, Frances Conroy 118 Min., FSK ab 16

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FOTO: AP Oscarreife Vorstellun­g: Joaquin Phoenix in „Joker“.

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