Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Als Wagner mal nach Wittlaer kam
Zur Rheinszene der „Götterdämmerung“könnte der Komponist im Düsseldorfer Norden inspiriert worden sein.
Die Sekundärliteratur ist voll von Versuchen, eine Antwort auf die drängendste aller Fragen rund um Richard Wagner zu finden. Sie lautet: Wo wurde er zum „Ring“inspiriert? Wo wurde seine Illusion des deutschesten aller Ströme genährt? Und wo spielt der kolossale Vierteiler genau: Ist es wirklich der Rhein bei Worms? Ist es nahe der Loreley, damit ziemlich Heine-nah? Oder lag die Quelle vielmehr in Dresden, wo die Elbe an manchem Stromkilometer dem Rhein und seinen zahlreichen Erscheinungsformen auffallend ähnelt?
Nun kann man sagen, der Rhein und die Elbe tun sich nichts. Ohnedies gibt es zu dieser und vielen anderen Fragen im Wagner-kosmos keine Deutungshoheit und kaum Überlegenheitsdebatten, weswegen auch schon viel Unernstes ins Land geflossen ist. Der „Ring“ist ja selbst nicht nur ein majestätisches Märchen, sondern auch eine Aneinanderreihung von lauter komischen, ironischen, durchgeknallten, hanebüchenen Szenen. Wir aber wollen einzig Fakten sprechen lassen, die mehr als nur eine Waldvogel-fährte zu der Tatsache legen, dass der „Ring“mit Düsseldorf mehr zu tun haben könnte, als die meisten ahnen.
Neue Dokumente beweisen glasklar, dass Wagner im Jahr 1872, und zwar am 5. Dezember, mal in Düsseldorf war; er hörte sich eine Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium „Salomon“an, um mögliche Sänger für Bayreuth zu rekrutieren. Nach Dokumenten, die im Buch „Wandrer heißt mich die Welt – Auf Richard Wagners Spuren durch Europa“dargelegt sind, ist er allerdings zur Pause gegangen. Das hat für Empörung gesorgt, mancher wird sich gesagt haben: Manieren hat der Mann nicht! Man hatte für ihn sogar ein Festessen vorbereitet, allein, der Ehrengast und seine Gattin Cosima erschienen nicht.
Kann natürlich sein, dass Wagner genug von Mindersängern hatte, die nicht seine Erwartungen erfüllten. Über die Aufführung und den Tenor Franz Diener fand er keine netten Worte: „Wir hören den ersten steifen, langweiligen Teil des Oratoriums an und eilen dann fort . . . Diener singt wieder vom Magen zum Gaumen.“Cosima ließ sich in ihren Tagebüchern ähnlich aus.
Überhaupt war Düsseldorfs musische Innenstadt für Wagner offenbar eine Pleite. Über das Drumherum jener Händel-darbietung (im alten Grupellotheater am Marktplatz) schrieb er in seinem „Einblick in das heutige deutsche Opernwesen“folgende boshafte Zeilen: „Und herrliche Musiksäle bauen sie ihren hohen Priestern auf: Darin sitzen sie, verziehen keine Miene, lesen im Texte nach, wenn oben auf dem Bretterbau ihre lieben Verwandten Jehova-chöre singen und Jupiter selbst ihnen den Takt dazu schlägt. Dergleichen erlebte ich zu Düsseldorf.“
Kann auch sein, dass er einen Anschlusstermin hatte, der ihm wichtiger war und den er nicht verpassen wollte. Am selben Abend reiste er jedenfalls noch nach Hannover weiter. Was aber hat er in der gewonnenen Zeit gemacht?
Wagner, dies dürfen wir als sicher annehmen, mochte Düsseldorf wegen seiner etliche Stromkilometer langen Rheinlage. Er war ja selbst eine Wasserratte, vermutlich nicht im körperlichen, wohl aber im spirituellen Sinn. Was bei Wagner nicht alles am Wasser spielt: „Holländer“, „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“, der „Ring“. Wenn Fluten und Schiffe sich zeigten, bebte Wagners Herz. Er liebte sanfte Uferpromenaden, wilde Täler, Schluchten, Untiefen, Strudel. Der Rhein zeigte ihm, was die Macht eines Stromes wirklich bedeutete.
Seine Düsseldorfer Gastgeber dürften enttäuscht gewesen sein, dass Wagner ihnen das Festessen versagte, aber es liegt nahe zu glauben, dass Wagner auf eigene Faust die Düsseldorfer Flusslandschaften erkundete. Und dabei dürfte er, der Leutselige, gehört haben, dass in vorzüglicher Rheinnähe ein neues Gasthaus im Entstehen begriffen war: Es war das „Brand’s Jupp“in Wittlaer, das in der Tat einige Monate später (1874) eröffnet wurde. Als er – so stellen wir uns vor – auf dem Grundstück stand, schaute er nach Norden, ließ seinen Blick über den Rhein gleiten und entdeckte eine interessante geografische Konstellation: die Mündung des Schwarzbachs. Dort haben Mutter Natur und Vater Rhein dicke Steine und Felsbrocken aufgetürmt; gleichzeitig ist der Rhein so nah, dass jede Nixe problemlos Zugang zu ihm fände. Und wer hier auf den Steinen steht und nach Südwesten schaut, sieht morgens zwischen den Uferbäumen die Sonne aufgehen.
Und ist es nicht so, dass genau hier, an einem der vielen unbefestigten Abschnitte des Rheins bei Düsseldorf, der Beginn des dritten Aktes der (1876 uraufgeführten) „Götterdämmerung“spielen könnte? Alle Komponenten wären versammelt: „Wald“, „Felsen“und „wild“. Und finster ist der Rhein auch. Hier könnte sich Wagner die Rheintöchter Woglinde, Wellgunde und Flosshilde imaginiert haben, wie sie aus dem Wasser auftauchen, gleichzeitig noch schicklich bekleidet sind und ihr Terzett beginnen: „Frau Sonne sendet lichte Strahlen; Nacht liegt in der Tiefe.“
Ein weiteres Indiz für Wittlaer als mögliche Vorlage ist dies: Wagner, der so mutig sich dünkte, war ein ängstlicher Mensch. Überall fürchtete er Feinde und Neider. Die Welt konnte nach seiner Auffassung minütlich untergehen, weswegen er Sorge hatte, eine Brücke heim nach Bayreuth könnte nicht mehr zugänglich sein oder gar in sich zusammenstürzen. Deswegen ist es beinahe undenkbar, dass die Rheinszene der „Götterdämmerung“im Linksrheinischen spielt. Worms ist linksrheinisch, Xanten ist linksrheinisch, von Köln ganz zu schweigen. Düsseldorf ist überwiegend rechtsrheinisch, Wittlaer erst recht.
Auf der kleinen Landzunge zwischen Rhein und Schwarzbach stellen wir sie uns also vor, die trällernden Rheintöchter, die gleich auf Siegfried treffen werden. Dort haben singende Damen ohnedies Tradition, in Wittlaer singt man noch heute bravourös. Petra Verhoevens Kinder- und Jugendchor St. Remigius, 1996 gegründet, ist beeindruckend stark an Kehlen und Kompetenz. Drei junge Damen des Chores haben wir gebeten, als Rheintöchter des Jahres 2019 die Wagnersche Anrufung der Sonne fürs Foto zu repräsentieren.
Und wenn es stimmt, dass die Wittlaerer Rheinpromenade immer schon zu den teuersten Flecken der Stadt zählt, dann fand Wagner hier seine inspirierendste Situation vor: das Wasser. Die wilde Natur. Die Sonne. Und natürlich das Kapital.