Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Warum die Strecke durch Angermund kein Schwarzbau war
Bahnlärm-gegner stellen in Frage, dass der Bau der Bahnstrecke im 19. Jahrhundert genehmigt worden war. Dabei ist die Quellenlage eindeutig.
Mit der Behauptung, die Eisenbahnstrecke von Düsseldorf nach Duisburg sei vor 175 Jahren als Schwarzbau errichtet worden, hat Angermund bundesweit von sich Reden gemacht: mal sachlich, mal despektierlich, ironisch oder gar bespöttelnd. Seit Jahren kämpft die „Initiative Angermund“um eine „verträgliche Integration der Bahn“in den Stadtteil. Bisher ohne greifbaren Erfolg: kein Tunnel, kein Lärmschutz, kein Tempolimit. Fast scheint es, der Kampf David gegen Goliath sei verloren. Nur so ist es zu verstehen, dass die Initiative Angermund wie David in Erwartung des Todesstoßes das Schwert der Argumente niederlegte und den kampferfahrenen Goliath Deutsche Bahn nun mit Schleuder und Kieselstein niederringen will. Ob der Schwarzbaukiesel die gewünschte Wirkung zeigt, wird das Verwaltungsgericht Düsseldorf entscheiden, später folgen wohl weitere Instanzen.
Doch ist ein Gericht der richtige Ort, um die Frage zu beantworten, ob für ein frühindustrielles Bauwerk ein Planfeststellungsbeschluss im spätindustriellen Sinn vorliegt? Beide Seiten behaupten, intensiv nach Unterlagen geforscht zu haben. Die Initiative will nichts gefunden haben, die Bahn spricht von Kriegsverlusten. Die Initiative bezieht ihre Klage nicht nur auf den Bau, sondern auch auf Ausbauten im 20. Jahrhundert. Zumindest mit Blick auf die Entstehung der Strecke bleibt dunkel, wo beide Seiten gesucht haben. Gründlich kann es nicht gewesen sein: Ein paar Klicks im Internet genügen, um zu anderen Ergebnissen zu gelangen.
In Wikipedia hat jede Bahnlinie einen eigenen Eintrag. Angermund liegt an der „Bahnstrecke Köln– Duisburg“. Ein gleichnamiger Artikel in der Internet-enzyklopädie gibt erste Orientierung: Die Trasse ist Teil der 1845/46 eröffneten Linie von Deutz nach Minden und wurde von der 1843 konzessionierten „Köln-mindener Eisenbahn-gesellschaft (KME)“errichtet. Beide Fakten sind nicht neu, helfen aber, um mit Unterstützung von Google & Co tief in den digitalen Schatz einzutauchen, den Archive und Bibliotheken mittlerweile ins Netz eingestellt haben. Vorbei sind die Zeiten, in denen man für den historischen Faktencheck quer durch die Republik reiste und Akten, Verordnungsblätter, Zeitungen, Bücher stundenlang in tristen Lesesälen durchforstete. „Köln-mindener-eisenbahn“, am heimischen PC bei Bier und Chips in eine Suchmaschine eingegeben, wirft über 67.000 Treffer aus. Das ist aber nur der Anfang. Die digitalen Datenbanken der Archive und Bibliotheken erhöhen die Trefferquote um ein Vielfaches. Am Ende des Surfritts hat man zwar keinen Planfeststellungsbeschluss für das „Teilstück Angermund“auf dem Schirm – aber die Erkenntnis, dass es diesen gar nicht geben kann und in Preußen ohne Genehmigung des Königs kein einziger Zug auf die Schienen gesetzt wurde.
Die Konzession der KME ist in der „Gesetz-sammlung für die Preußischen Staaten“abgedruckt. Hier erfährt man: Der preußische König will Eisenbahnen, scheut aber das wirtschaftliche Risiko, überlässt lieber Spekulanten die Finanzierung, behält jedoch durch Besetzung von Schlüsselpositionen mit Staatsbeamten die Kontrolle über die private Gesellschaft. So tummelte sich im Vorstand und Aufsichtsrat der KME das Who-is-who der rheinischen Spitzenbeamten: Kommerzien- und Regierungsräte, Oberbürger- und Bürgermeister, Stadt- und Landräte. Um rheinischem Klüngel vorzubeugen, verfügte der König in § 3 der Kme-statuten vorsorglich: „Die Bestimmung der Bahnlinie und die Festsetzung des Bauprojektes bleibt dem Königlichen Finanzministerium vorbehalten“.
Nach Ausweis der digitalisierten Rechenschaftsberichte legte die KME sofort los: 1844 waren die Haltepunkte zwischen Deutz und Minden festgelegt und von König Friedrich Wilhelm gutgeheißen. Dann erfolgte zwischen den projektierten Bahnhöfen die Feinausarbeitung. Die rund 250 Kilometer lange Strecke von der Domstadt bis zur Grenze an das Königreich Hannover wurde in sieben Abschnitte, diese noch einmal in kleinere Sektionen eingeteilt. Für jede Sektion holte die KME über das Regierungspräsidium die Ausführungsgenehmigung von Berlin ein. Die heute in Rede stehende 2,5 Kilometer lange Gleisanlage durch Angermund war Teil der „Section von Derendorf nach Duisburg“.
Planerisch war der Abschnitt keine große Herausforderung. Da auf der Strecke keine Hindernisse wie Flüsse, Hügel oder Mulden lagen, galt das Motto: Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Gerade. Auf der Karte brauchte der Planer zwischen Derendorf und Duisburg mit dem Lineal nur einen Strich zu ziehen – fertig war die heute auch von ICE genutzte Trasse. Vor 175 Jahren durchschnitt der Bahnkörper fast ausschließlich unbesiedeltes Busch- und Ackerland. Der Bahnhof Kalkum lag auch nach damaligem Verständnis in der Pampa.
In Angermund lebten die rund 500 Einwohner noch alle im Schatten des Turms der Agneskirche und weit entfernt von der Eisenbahn. Erst 100 Jahre später wuchs Angermund zunächst an und dann über die Gleise. Im Juli 1844 informierte der technische Direktor der Eisenbahngesellschaft, Regierungs- und Baurat König, den Kme-verwaltungsrat darüber, dass die „Kartirungen und Nivellements“für die Sektion Derendorf-duisburg abgeschlossen sind „und der königlichen Regierung zu Düsseldorf“vorliegen, „so daß der baldigen policeilichen Genehmigung der Linie entgegengesehen wird“.
Die entsprechende Genehmigung ist digital nicht zu ermitteln. Sie muss aber erteilt worden sein, da die KME im Frühjahr 1845 in Derendorf mit dem Ankauf bzw. der Enteignung der für den Bau notwendigen Grundstücke begann. Hierzu war die KME ausdrücklich befugt, allerdings erst nach Erteilung der Streckengenehmigung und Ablauf einer amtlichen Verkündigungsfrist. So zeigte der Oberbürgermeister in der Düsseldorfer Zeitung (DZ) vom 25.03.1845 an, dass die vom Landgericht erlassene Verfügung, „betreffend die Expropriation (Enteignung) der zur Cöln-mindener Eisenbahn abzutretenden Grundstücke in der Gemeinde Derendorf“, bis zum 1. April im Rathaus eingesehen werden kann. Mehr als Kenntnisnahme war nicht drin. Einspruch oder gar Widerspruch von Seiten der Betroffenen waren nicht vorgesehen. Was für Derendorf galt, galt auch für Angermund, auch wenn das Internet für Angermund (noch) keine öffentliche Bekanntmachung anzeigt.
Am 5. Februar 1846 wurde die Strecke von Düsseldorf nach Duisburg im Beisein der gesamten Lokalprominenz dem Verkehr übergeben. Laut DZ setzte sich der erste Zug um 11 Uhr „mit Musik und unter dem Donner der Geschütze“vom heutigen Graf-adolf-platz in Bewegung und erreichte nach 35 Minuten Duisburg, „wo Tausende von Menschen“den Beginn eines neuen Zeitalters feierten. Vermutlich auch Angermunder. Zur Jungfernfahrt hatte der Zug „auf dem Bahnhofe zu Calcum zur Aufnahme neuer Gäste kurze Zeit angehalten“.
Ein Jahr später ist die gesamte Strecke fertig. Unaufgeregt beginnt der Bauabschlussbericht für den rheinischen Teil, abgedruckt in der DZ vom 6.Juli1846, mit den Worten: „Für die ganze Linie von Deutz bis Minden ist die Genehmigung der Staatsbehörden auf den Grund der Vorarbeiten (Planungsentwürfe) ertheilt worden“.
Wem das Internet zur Widerlegung der Behauptung, die Eisenbahnlinie von Düsseldorf nach Duisburg sei ein Schwarzbau, nicht genügt, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in den noch nicht digitalisierten Aktenbeständen der Staatsarchive Berlin, Koblenz oder Duisburg den nun bundesweit bekannten „Sektionsfeststellungsbeschluss von 1845“analog finden. Kann man machen, muss man aber nicht. Am Ende behauptet noch jemand, ganz Düsseldorf sei ein Schwarzbau. Diese Behauptung zu widerlegen, wäre kein Leichtes. Denn: Das Original der Düsseldorfer Stadterhebungsurkunde von 1288 ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts spurlos verschwunden.