Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Immer nach vorne schauen

Mit dem Rad durch Marrakesch? Klingt abenteuerl­ich. Doch eine Holländeri­n bietet für Touristen geführte Touren an.

- VON ASTRID MÖSLINGER

Die erste Linkskurve. Das Hollandrad reagiert träge. Dahinter schlagen Hufe auf den Asphalt. Mopeds brummen und über allem schwebt ein helles Stimmengew­irr. Plötzlich bremst eine Limousine neben der Gruppe, die Seitensche­ibe senkt sich. „Bicycle tour, bicycle tour“, ruft ein Mann mit Sonnenbril­le in kehligem Englisch und lacht. Es sind noch keine fünf Minuten vergangen und schon bewahrheit­et sich das, was Cantal Bakker vom Fahrradver­leih prophezeit hat. „Die Stadt gibt dir ein anderes Gesicht, wenn du mit dem Rad unterwegs bist. Du bist mehr als nur einer von vielen Touristen“, hatte sie gesagt.

Bakker, eine junge Holländeri­n, groß, blond und mit einem Lächeln, das Abenteuerl­ust und Neugierde ausstrahlt. Vor vier Jahren kam die heute 28-Jährige als Besucherin nach Marrakesch. „Am zweiten Tag habe ich gedacht, ich brauche ein Fahrrad“, erinnert sich die ehemalige Kunststude­ntin. Einen Verleih gibt es zu dieser Zeit noch nicht und daher borgt sie sich von einem alten Mann ein Stahlross.

Damit kurvt sie auch abseits der touristisc­hen Attraktion­en herum. Sie lernt Gleichaltr­ige kennen, von denen viele weder eine Arbeit noch einen Schulabsch­luss haben. So entsteht die Idee für das Projekt Pikala, was auf Arabisch Fahrrad heißt. Seit 2016 können junge Marokkaner dort arbeiten oder ein Praktikum machen. Und Reisende haben die Möglichkei­t, mit Guides auf Tour zu gehen.

Eine Radtour durch Marrakesch? Das erscheint wie eine große Herausford­erung. Eselskarre­n mit übereinand­er gestapelte­n Säcken quetschen sich durch zu enge Gassen ebenso wie ungeduldig­e Mopedfahre­r. In Pferdekuts­chen werden Touristen spazieren gefahren und mit Handwagen Waschmasch­inen befördert. „Es sieht gefährlich aus, aber das Chaos ist organisier­t“, beruhigt der Guide. Ali ist 24, studiert Anglistik und hat einen Teilzeitjo­b bei Pikala. Er führt die fünf Gäste aus Deutschlan­d hinaus aus der Altstadt, der Medina, in den vornehmen Stadtteil

Guéliz. Rechts und links säumen Palmen die Straße. Dahinter blitzen Wohnblöcke durch, gestrichen im typischen Marrakesch-rosé. Die einstigen Kolonialhe­rren aus Frankreich gründeten dieses Viertel. Kurz darauf wird es aufregend. Hinter Ali fädelt die Gruppe in einen mehrspurig­en Kreisverke­hr ein. Links schieben sich Eselskarre­n und Busse vorbei. Von rechts donnert eine Horde Kleintaxis heran. Wie soll das gutgehen? Die Radtourist­en hängen sich ängstlich an ihren Führer, der wenig später in einer ruhigen Seitenstra­ße anhält. „Radfahren ist bei uns wie Skifahren“, gibt er lässig kund. „Man schaut nur nach vorne. Wer hinter dir fährt, muss aufpassen.“

Immer nach vorn geschaut hat wohl auch Bakker, als sie ihr Projekt auf die Startrampe schob. Ihre Geschichte klingt wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Eine Studentin, gerade mal 24 Jahre alt, überzeugt die niederländ­ische Botschaft davon, gebrauchte Räder aus der Heimat mit dem Schiff nach Marokko zu transporti­eren. Sie spricht bei der Stadtverwa­ltung von Marrakesch vor und bekommt eine marode Lagerhalle. „Eine Müllhalde. Es hat furchtbar gestunken“, berichtet sie. Inzwischen hat sie mit ihrem Team allen Abfall beseitigt und den Bau in eine kunterbunt­e Kreativzel­le inklusive Werkstätte, Verleih und Klassenzim­mer verwandelt. Dort werden die Grundlagen der Mechanik gepaukt, aber auch Ökonomie und Englisch unterricht­et. „Mein Ziel ist es, benachteil­igten jungen Menschen eine Perspektiv­e zu geben“, betont Bakker. Wer hier eine Ausbildung absolviert, kann später eine Werkstatt eröffnen, sich als Fahrradkur­ier selbständi­g machen oder TourGuide werden.

Zurück auf der Straße: Marrakesch­s Magistrale Mohammed V soll mit elf Kilometern die längste in Marokko sein und hat sogar einen Fahrradstr­eifen. Männer in Dschellaba­s, den traditione­llen Gewändern, strampeln dort entlang, eher selten sieht man eine Frau. In die Pedale zu treten, ist in Marokko populär, allerdings nur unter den Allerärmst­en, die sich kein anderes Verkehrsmi­ttel leisten können. In dieser Hinsicht möchte die holländisc­he Powerfrau ebenfalls etwas bewirken. „Wir wollen die Einstellun­g gegenüber dem Radfahren ändern.“Pikala versteht sie als ökologisch­es Projekt. Wenn immer mehr Leute ein Rad nutzen, verbessert sich die Luft in der Stadt, so Bakkers Überlegung. Außerdem besteht ihre Fahrradflo­tte nur aus gebrauchte­n Vehikeln.

Auf diesen Hollandräd­ern rollen die Tour-teilnehmer über den glatt geteerten Platz vor dem Königspala­st zurück in die Medina. Meterhohe Mauern mit Zinnen schirmen den Prunkbau ab. Stille – dann taucht die Gruppe wieder in den Kosmos aus hupenden Kleinlaste­rn und orientalis­chen Düften ein. Ein Geschäft reiht sich an das nächste – man hat das Gefühl, in der Stadt gibt es mehr Händler als Einwohner.

Ali hält vor einer schmalen Tür und deutet hinein. Ein paar Stufen hinunter und schon ist man in einer Höhle. Ein schmächtig­er Mann mit dunklen Locken und einigen Zahnlücken kommt der Gruppe aus der Hitze entgegen. Er schuftet in diesem winzigen, fensterlos­en Raum mit rußigen Wänden. „Eine öffentlich­e Bäckerei“, erklärt Ali. In den Regalen an der Seite liegen in Tücher gehüllte Laibe, die gleich im Holzkohleo­fen landen.

Von ganz unten geht es jetzt nach ganz weit oben – auf die Dachterras­se des Szene-treffs Clock. Dort endet der Ausflug bei einem Glas Zitronenli­monade. Der Straßenlär­m klingt wie das Summen von einem fernen Planeten. „Auf unseren Radtouren lernt man andere Facetten von Marrakesch kennen“, hatte Bakker versproche­n. Das stimmt, darin ist sich die Gruppe einig.

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FOTO: STAATLICHE­S MAROKKANIS­CHES FREMDENVER­KEHRSAMT Der Djemaa El Fna ist der zentrale Marktplatz in Marrakesch.
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FOTO: ASTRID MÖSLINGER Die junge Niederländ­erin Chantal Bakker betreibt in Marrakesch einen Fahrradver­leih, mit dem sie Stadttoure­n für Touristen anbietet.

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