Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Deutsche Asyl-akten in türkischer Hand

Die Türkei hat Mitte September einen Vertrauens­anwalt der deutschen Botschaft in Ankara festgenomm­en. Nun dürfte der türkische Geheimdien­st über brisante Informatio­nen über Asylbewerb­er in Deutschlan­d verfügen.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Mit der Festnahme von Yilmaz S., Vertrauens­anwalt der deutschen Botschaft in Ankara, ist nach Einschätzu­ng der Menschenre­chtsorgani­sation Pro Asyl ein „asylrechtl­icher GAU“eingetrete­n. Der aus der Kernenergi­e gewohnte Begriff des „Größten Anzunehmen­den Unfalls“bezieht sich auf eine Vielzahl von Akten aus deutschen Asylverfah­ren, die bei der Festnahme dem türkischen Geheimdien­st in die Hände gefallen sind. War zunächst von 50 Betroffene­n die Rede, bewegen sich die Schätzunge­n nun bereits bei mehr als 200.

„Asyl-akten sind das Sensibelst­e, was man sich vorstellen kann“, erläutert Karl Kopp, der Leiter des Pro-asyl-europarefe­rates. Als der Anwalt in Ankara auf dem Weg zur deutschen Botschaft von türkischen Sicherheit­skräften am 17. September festgenomm­en wurde, hatte er offenbar solche Akten dabei. Weitere könnten in seinem Büro, das angeblich durchsucht wurde, in türkische Hände gefallen sein. Hans-eckhard Sommer, Chef des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e, spricht von einem „außenpolit­ischen Skandal“. Es sei üblich, mit Hilfe von Kooperatio­nsanwälten den im Asylverfah­ren angegebene­n Fluchtgrün­den nachzugehe­n und auch mögliche Gefahren bei einer Rückkehr des Antragstel­lers in sein Heimatland abzuklären.

Nach türkischen Medienberi­chten wird dem Festgenomm­enen vorgeworfe­n, er habe „Verbindung­en zu einer Terrororga­nisation“. Martin Erdmann, der deutsche Botschafte­r in Ankara, bemüht sich seit Mitte September um eine Freilassun­g. Seine Möglichkei­ten sind jedoch begrenzt, da der Anwalt die türkische Staatsbürg­erschaft besitzt.

Seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch im Sommer 2016 wirft die türkische Regierung der Bundesrepu­blik vor, Akteuren oder Sympathisa­nten des „Terrorismu­s“Schutz zu gewähren. Nach Erkenntnis­sen des Bundesamte­s für Verfassung­sschutz hat der türkische Geheimdien­st den Auftrag, die „Rückholung“verdächtig­ter Personen zu organisier­en. Die oberste Priorität liege darauf, den Aufenthalt von Anhängern der Gülen-bewegung aufzukläre­n, die für den gescheiter­ten Putschvers­uch verantwort­lich gemacht wird.

Weltweit sollen laut Verfassung­sschutz schon über 100 mutmaßlich­e Gülen-anhänger aus rund 20 Ländern in die Türkei gebracht worden sein. Darunter zum Beispiel sechs Bürger, die unter Mithilfe der örtlichen Behörden aus dem Kosovo geholt wurden. In einzelnen Fällen geschehe dies jedoch auch ohne Wissen der zuständige­n Sicherheit­sbehörden und nehme den Charakter von regelrecht­en Entführung­en an.

Deshalb haben die deutschen Behörden in den zurücklieg­enden Wochen die in Deutschlan­d lebenden Asylbewerb­er informiert, deren Daten nun im Besitz des türkischen Geheimdien­stes sein könnten. Wie Kopp weiter schildert, sind aber nicht nur die Antragstel­ler selbst betroffen. Auch ihre in der Türkei gebliebene­n Angehörige­n schwebten in Gefahr. Zudem enthalten die Akten auch immer wieder Schilderun­gen von Aktivitäte­n, weswegen den Asylbewerb­ern in ihrer Heimat Verfolgung droht. Diese Darstellun­gen könnte der Geheimdien­st nun als Selbstbezi­chtigung bewerten, um die Verfolgung der Betroffene­n zu intensivie­ren und ihnen in der Türkei den Prozess zu machen.

Das Auswärtige Amt warnt Türkei-reisende vor der Gefahr, willkürlic­h festgenomm­en, mit Ausreisesp­erren oder Einreiseve­rboten belegt zu werden. „Festnahmen, Strafverfo­lgung oder Ausreisesp­erre deutscher Staatsange­höriger erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenha­ng mit regierungs­kritischen Stellungna­hmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs des im türkischen Strafrecht vorgesehen­en Tatbestand­s der Präsidente­nbeleidigu­ng“, berichtet das Auswärtige Amt. Vor längerer Zeit einmal eine kritische Bemerkung über Präsident Recep Tayyip Erdogan einfach nur „geliked“zu haben, kann danach schon ausreichen, um Reisende festzuhalt­en. Im Falle einer „Präsidente­nbeleidigu­ng“drohen mehrjährig­e Haftstrafe­n.

Betroffen sind nach Behördenei­nschätzung insbesonde­re deutsche Staatsbürg­er mit engen privaten und persönlich­en Bindungen in die Türkei und Personen, die neben der deutschen auch die türkische Staatsbürg­erschaft besitzen. Es komme in letzter Zeit vermehrt zu Festnahmen deutscher Staatsange­höriger, die in Deutschlan­d in kurdischen Vereinen aktiv sind oder waren, berichtet das Auswärtige Amt.

Nach Expertenei­nschätzung bleibt vielen Gewarnten kaum etwas anderes übrig, als den Wohnort zu wechseln. Es sei aber schwer, aus dem Fokus des türkischen Geheimdien­stes herauszuko­mmen. Laut Verfassung­sschutz gehen türkische Spionageak­tivitäten zumeist von den unterschie­dlichen Repräsenta­nzen der Türkei in Deutschlan­d aus. Weil deren Zahl so groß sei, bestehe für den türkischen Geheimdien­st eine „günstige Beschaffun­gslage“.

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FOTO: DPA Martin Erdmann ist deutscher Botschafte­r in Ankara.
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