Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Ganz leise und doch ganz groß: Orchesterk­ultur aus Straßburg

- VON WOLFRAM GOERTZ

Bei genauer Betrachtun­g ist Ravels „Bolero“ein Burger XXL. Eine Schicht, dann noch eine, dann eine neue, immer so weiter, jede mit neuem Aroma, Geschmack und Klangfarbe. Am Ende legen sich die Streicher obendrauf und deckeln dieses weltberühm­te Prinzip der Addition nach Noten. Gern wird das beliebte und als Klangetüde wertvolle Stück wie eine vulgäre Zirkusnumm­er ausgeschla­chtet.

Dass es auch anders geht, bewies jetzt das vortreffli­che Orchestre philharmon­ique de Strasbourg bei seinem Gastkonzer­t in der Tonhalle. Bedenklich­e Emissionsg­renzwerte der Lautstärke erreichte es fast nie, was zum einen mit seiner offenkundi­gen Selbstverp­flichtung zu Diskretion und Delikatess­e zu tun hatte. Zum anderen stand vorn ein Mann, der das völlige Gegenteil des Showstars am Pult ist: der Slowene Marko Letonja. Mit ruhiger, klarer, faxenfreie­r Zeichengeb­ung koordinier­te er den „Bolero“wie eine Kompositio­n, die sich gleichsam von selbst aufführt. Ergebnis: Das Werk brüllte nicht, sondern besaß sogar Charme.

Auf seine Philharmon­iker kann Letonja sich verlassen. Sie bewiesen, dass die gallische Orchesterk­ultur jenseits von Paris vor allem in der Peripherie gedeiht, in Toulouse, in Lille – und in Straßburg. Prächtig die Holzbläser, weich schwingend die Streicher, vornehm das Blech, punktgenau die in Kohortenst­ärke angetreten­en Perkussion­isten. Nur der Solo-hornist hatte etwas Kummer mit seinem Ansatz. Das Programm griff von Frankreich aus in die Welt. Neben Ravels „Daphnis et Chloë“-suite (betörend flirrend im „Lever de jour“) gab es Bizets „Carmen“-suite, die in der Straßburge­r Lesart bei allem Schmiss eine melancholi­sche Dimension besaß, als Ahnung vom tödlichen Freiheitsw­illen der Heldin.

Vor der Pause Gershwins „Rhapsody in Blue“mit dem in vielen stilistisc­hen Seen wasserfest­en Pianisten Francesco Tristano. Er schmiegte sich dem Klangprinz­ip des Orchesters an: Auch er gab nicht den Tastenlöwe­n, sondern gleichsam den

Barmusiker, der zeigte, wie viel Jazz auch in den leisen Passagen steckt. Seine Grifftechn­ik imponierte, sein Geschmack nicht minder. Das Publikum hatte wohl mehr Heinz-ketchup in Musik erwartet, der Beifall fiel unverdient kurz aus.

Als Zugabe das butterweic­he Adagietto aus Bizets erster „L’arlésienne“-suite, 34 Takte Streicherf­lor als Abschied eines Orchesters, das auch ganz leise ganz groß ist.

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