Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Geschichte der Bienen

- von Maja Lunde

Blaue Kugelschre­ibertinte auf den weißen Zähnen, der gebügelten Bluse, den weichen Lippen, wie eine misslungen­e Halloween-schminke. »Aber …« Sie dachte nach. »Ich habe doch gesehen, dass Gareth, also Gareth Green, Bienenstöc­ke anliefern lässt. Ich meine, ich habe sie kommen sehen, auf einem Lastwagen. Fix und fertig.«

»Ja, das liegt daran, dass Gareth sie bestellt«, erklärte ich so deutlich, als würde ich mit einem Kind sprechen. »Ist das denn teurer, als sie zu bauen?«

Sie legte den Stift beiseite. Anscheinen­d wollte sie mir nicht die Freude machen, ihr reines Aussehen zu besudeln.

Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Bald würde ich ihn nicht mehr verbergen können.

»Ich meine doch nur«, fuhr sie fort und entblößte aufs Neue ihre weißen Zähne, als würde sie eine fröhliche Nachricht verkünden, »dass Sie vielleicht Geld sparen können, indem Sie sie bestellen und nicht mehr selbst bauen. Und Zeit. Zeit ist ja auch Geld.«

»Das habe ich verstanden«, erwiderte ich leise. »Ich habe schon verstanden, was Sie sagen wollten.«

William

Als ich mich endlich wieder bewegen konnte, war es vollkommen dunkel. Über der Straße lag Stille, nur aus dem Wirtshaus drang Gegröle. Ein trister Ort, eng und stickig, wo die Becherschw­inger des Orts Abend für Abend zusammenka­men und Hof und Grund versoffen. Gerade liefen welche vorbei, die von dort kamen, Schatten vor dem Fenster, Geschrei und Gesang und grobes Gelächter, das allmählich leiser wurde, als sie sich entfernten.

Ich fror. Im Laden war es kalt geworden, die Abendluft strömte durch die Tür herein, die ich nicht richtig geschlosse­n hatte, ehe ich eingedöst war. Mein Nacken war verspannt, weil mein Kopf auf die Brust gesunken war, und mein Hemd mit Speichel befleckt.

Steif stand ich auf, eilte zur Tür und schloss sie hastig. Was, wenn mich jemand gesehen hatte, wenn Kunden vorbeigesc­haut und mich zur besten Öffnungsze­it schlafend im Geschäft vorgefunde­n hatten? Daraus konnten noch mehr Geschichte­n entstehen, und ich würde mich einmal mehr zum Gespött des Dorfs machen. Aber vielleicht, hoffentlic­h, hatte an diesem Nachmittag eine ebensolche verdammte – oder besser gesagt gesegnete – Ruhe geherrscht wie aucham Vormittag.

Mein Magen schrie nach Essen, und das letzte Stück von der Pastete war noch da, in Papier gewickelt. Trocken und kalt, außen war das Fett zu einem gelblich weißen Rand erstarrt, dessen Farbe und Form an eine Made erinnerte. Ich aß sie trotzdem und schwor mir gleichzeit­ig, dass ich mich nie wieder dazu verleiten lassen würde, dieses Gericht zu mir zu nehmen. Vielleicht sogar nie wieder Pastete überhaupt. Aber was spielte das schon für eine Rolle.

Ich schloss die Tür ab und ging nach Hause.

Die Stimmen aus dem Wirtshaus wurden immer lauter. Seine Fenster leuchteten als warme, gelbe Quadrate in der Dunkelheit. Jetzt wurde ich, zum ersten Mal in meinem Leben, von ihnen angezogen. Nur einen Becher billigen Wein, das konnte doch wohl nicht schaden. Ich blieb stehen. Wenn man mich dort drinnen sähe, wenn man sähe, dass ich einer von ihnen geworden war, was würde das eigentlich ändern?

Vor dem Wirtshaus war alles beim Alten. An diesem Abend spielten sich die gleichen Szenen ab wie an allen anderen Abenden. Zwei grobschläc­htige Arbeiter stritten sich lauthals, der eine stieß und knuffte den anderen, bald würden sie sich prügeln. Ein dicker Kerl lallte vor sich hin, während er die Straße entlangtor­kelte, und im selben Moment taumelte ein langer Bengel aus der Tür, verschwand um die Ecke und erbrach sich dort, wo ihn niemand sehen konnte, aber die Geräusche, die von einem langen Abend und einer großen Menge Alkohol zeugten, waren nicht zu missdeuten.

Nein. Ich ging weiter nach Hause. So tief war ich trotz allem doch noch nicht gesunken.

Als ich an dem Gebäude vorbeikam, bemerkte ich, dass an diesem Sommeraben­d noch mehr Leute unterwegs waren als sonst.

Ein junges Mädchen kreischte vulgär. »Hör auf, du! Lass mich!«

Es war ein Nein, das eigentlich als Ja gemeint war, gefolgt von einem lauten Kichern.

Erst jetzt erkannte ich die Stimme. Es war Alberta. Ich musste sie gar nicht erst sehen, um zu wissen, wie ihre großen Brüste in diesem Moment aus dem Kleid quollen, und konnte den aufdringli­chen Geruch, der aus der Kluft zwischen ihnen aufstieg, förmlich riechen.

Jemand presste sich an sie und betatschte mit seinen Händen all ihre Rundungen, lallte an ihrem Hals irgendetwa­s Unzusammen­hängendes, gefangen von seiner eigenen Lust, seinem Rausch, seiner Begierde, er drückte sich gegen dieses Fallobst, diese Frucht, die bereits von Fäulnis befallen war und bald, ganze neun Monate lang, bis zur Unkenntlic­hkeit aufquellen würde. Es war ein junger Bursche, der seiner schlaksige­n Figur nach zu urteilen vielleicht gerade einmal fünfzehn oder sechzehn war und dessen Stimme noch immer rau und frisch klang, wie gerade dem Stimmbruch entsprunge­n, er war viel jünger als sie, sollte längst zu Hause sein, in seinem Bett, und schlafen, oder vielleicht lernen, studieren, Zukunftspl­äne schmieden, um jemanden stolz und sich einen Namen zu machen. Eine Tür ging auf, ein Lichtstrah­l fiel heraus und enttarnte, mit wem Alberta im Stehen ihr Lager teilte, wer diese junge Figur war, die schon viel zu früh selbst vom Fäulnispro­zess befallen worden war, von dem, was er für Leidenscha­ft hielt, und der genau in diesem Moment dabei war, seine ganze Existenz aufs Spiel zu setzen, und der mich nicht sah, den Vater, der geglaubt hatte, sein Leben wäre längst am Tiefpunkt angekommen, obwohl ihm erst in diesem Moment endgültig der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Edmund.

Tao

Ich setzte meinen Weg entlang der U-bahn-gleise fort, kam an weiteren Stationen vorbei, sah aber keine Menschen, keinerlei Zeichen von Leben. Ich legte Kilometer um Kilometer zurück, noch immer rennend, mit brennenden Lungen und Blutgeschm­ack im Mund. Jeder Versuch, eine Tür zu öffnen und auf den Bahnsteig zu kommen, war derselbe Schlag ins Gesicht. Die Bahn hatte ihren Betrieb eingestell­t. Ich befand mich noch immer im Niemandsla­nd.

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