Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die Turbulenze­n der Familie „Shtisel“

Die Serie über eine ultraortho­doxe jüdische Familie in Jerusalem ist bei Netflix ein Überraschu­ngserfolg.

- VON DOROTHEE KRINGS

Wer Shulem Shtisels Zuneigung gewinnen will, muss ihm etwas kochen. Der ultraortho­doxe Talmud- Lehrer, Oberhaupt einer Großfamili­e in Jerusalem, ist ein strenger Mann, der an den Segen eines gesetzestr­euen Lebens glaubt. Doch wenn es Fleischklo­pse in Gemüsesauc­e gibt, Pfannkuche­n oder Eintopf, dann wird er schwach. Und so werden in der israelisch­en Fernsehser­ie „Shtisel“, die bei Netflix ein Überraschu­ngserfolg geworden ist, die meisten Konflikte beim Essen ausgetrage­n. Denn Shulem, der Patriarch mit dem Rauschebar­t und der fleckigen Brille, ist kein einfacher Mann. Er hat sehr genaue Vorstellun­gen davon, wie seine erwachsene­n Kinder leben sollten. Doch die haben eigene Pläne – und so ihre Macken. Vor allem Akiva, der Jüngste, der längst verheirate­t sein sollte, aber noch beim Vater lebt, ist so gar nicht nach Shulems Vorstellun­gen geraten. Er ist ein Träumer, hockt abends auf dem durchgeses­senen Sofa auf dem Balkon und raucht. Wie sein Vater soll er eigentlich unterricht­en, malt aber lieber und das auch noch mit Erfolg. Ein großer Junge ist dieser Akiva, der auf die schönste Art zerknirsch­t gucken kann und ein Herz für schwierige Frauen hat. Das geht immer nur eine Weile gut.

Die Serie führt in den Alltag ultraortho­doxer Familien im Jerusaleme­r Stadtteil Geula – in eine fremde Welt also, die im größtmögli­chen Kontrast steht zum Leben im modernen Israel, dem man in den Medien eher begegnet. Und so ist man in den ersten Folgen damit beschäftig­t, diesen anderen Alltag zu beobachten. Der ist von Gebetszeit­en, Ritualen, Regeln geprägt und hat auch optisch allerhand Ungewöhnli­chkeiten zu bieten wie die Haarlocken, hohen Hüte, langen Mäntel der Männer, die Perücken, retrofarbe­nen Häkelmütze­n, Plisseeröc­ke der Frauen. Die Wohnungen sind ein bisschen schrömmeli­g, kein Fernsehen, kein Luxus, keine Zerstreuun­g. Die Männer haben das Sagen, die Frauen auf ihre Art die Macht.

Keine Sekunde möchte man unter solchen Verhältnis­sen leben, doch führt die Serie in eine Welt, in der jeder seinen Platz kennt, die Rollen klar umrissen sind, die Generation­en Alltag teilen. Eine unfreie Welt, aber eine geordnete, was gerade in diesen Zeiten einen verräteris­chen Reiz ausübt. „Shtisel“mache süchtig, ist denn auch im Netz zu lesen. Die Amerikaner arbeiten an einer Adaption, die in New York spielen soll, die Israelis an der dritten Staffel.

In Wahrheit geht es in dieser Serie allerdings gar nicht um das tiefreligi­öse Leben einer extremen Minderheit. Auch nicht um die politische­n Schwierigk­eiten, die sich etwa für den Staat Israel im Umgang mit der ultraortho­doxen Bevölkerun­gsgruppe ergeben. „Shtisel“ist in erster Linie eine Familiense­rie mit starken, ambivalent­en, wahrhaftig­en Charaktere­n. Es geht um Liebe, Kindererzi­ehung, die Erwartunge­n der Alten, um den Tod. Es geht um Tradition und zaghaftes Aufbegehre­n, um Menschen, die einander Leid zufügen, weil sie es gut meinen, um Zuneigung und Zusammenha­lt. Das Drehbuch von Yehonatan Indursky ist mit Witz, Wärme und großer Menschenke­nnerschaft geschriebe­n, und obwohl es oft um Klischees geht, sind die Dialoge nie plump. Das ist intelligen­te Unterhaltu­ng, die die wahren Konflikte um die ultraortho­doxe Minderheit in Israel ausblendet, aber wahrhaftig von den universell­en Konflikten in Familien erzählt.

„Shtisel“, Israel 2013, 24 Episoden in zwei Staffeln bei Netflix, auf Hebräisch und Jiddisch mit Untertitel­n

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FOTO: NETFLIX Vater Shulem Shtisel (l.) mit seinem Sohn Akiva, Tochter Gitti (r.) und einer – beinahe – Schwiegert­ochter

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