Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Dieses Volk ist ungefestigt
Sind die Deutschen sich selbst peinlich oder doch heimliche Patrioten?
Wundern Sie sich auch, wie oft wir Deutsche mit kritischem Ton auf uns blickend vorwurfsvoll, selbstanklägerisch Stellung beziehen? Dies oder jenes sei „typisch deutsch“heißt es dann – mit der unausgesprochenen Entschuldigung für nationale Eigenarten, unter denen man leidet oder zu leiden vorgibt. Joachim Fest schreibt in seinem fabelhaften Italienbuch „Im Gegenlicht“: „Die Deutschen sind sich selber eine Peinlichkeit.“Fast jeder Reisebericht vermerke den Horror vor den Landsleuten, und Goethe äußere über seine „Italienische Reise“, sie drücke auch seinen Hass gegen das Deutsche aus. Hand aufs Herz: Wer von uns hat im Urlaub nicht schon einmal zufrieden resümiert: „Schön hier, vor allem nicht zu viele Deutsche.“Fests Fazit zu dieser Eigentümlichkeit: Er frage sich, in welcher anderen Nation auf der Welt Übereinstimmung mit dem eigenen Charakter als Vorwurf gelte. Tja, wenn selbst Berliner Spitzenleute für den seltsamen Wesenszug stehen. Die eine machte bei einer Demo von Linken mit, in der ihr Land verbal mit Fäkalien beworfen wurde. Der andere beschrieb seinen Brechreiz beim Wort Vaterlandsliebe. In Frankreich, den USA, Polen wären beide für Staatsämter schwer vermittelbar.
Kanzler Willy Brandt (SPD) zeigte dagegen Patriotismus mit Maß. Sein
Wahlslogan 1972 kehrte die Lust an der Selbstgeißelung ins Gegenteil: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land“. Es folgte ein Wahltriumph. Sind wir womöglich doch heimliche Patrioten, die wissen, dass es uns verdammt gut geht im eigenen Land und dass das auch etwas mit typisch deutscher Wesensart zu tun hat? Wenn nur der fatale Hang nicht wäre, von einem Extrem ins andere zu wechseln: Gestern Selbstbezichtigung und morgen Dünkel samt Patrioten-protz gegenüber „armen Nachbarn“? Dieses Volk ist ungefestigt.