Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Bis zur Unerträglichkeit
Die Kunsthalle Düsseldorf verschafft dem 50 Jahre überspannenden filmischen Werk von Lutz Mommartz neue Aufmerksamkeit.
DÜSSELDORF Die Welt ist aus den Fugen. Besonders leidet die Kultur unter den wegen Corona notwendig gewordenen Maßnahmen. Manche Museen laden sogar dazu ein, ihre geschlossenen Häuser zu Fuß zu umrunden. Die Kunsthalle bleibt auch zu. Aber das, was Direktor Gregor Jansen und Renate Buschmann als Kuratoren dort aufgebaut haben, lässt sich selbst ohne Eröffnung und erste Ausstellungstage gedanklich umkreisen. Denn das Werk eines wegweisenden rheinländischen Nonkonformisten ist nahezu komplett (und kostenfrei) im Netz einsehbar.
Die Begegnung mit dem Filmer Lutz Mommartz war einigen Journalisten vor der Schließung möglich, und sie war besonders. Steht mit dem drahtigen Verteter des Jahrgangs 1934 ein Stück Kunstgeschichte im Raum, sehr lebendig, vibrierend, nicht geizend mit Grundsatz-sätzen. In seiner Vita liest man von einer späten Laufbahn als Verwaltungsbeamter, einem frühen Start als autodidaktischer Quereinsteiger in die Filmkunst. Er war der erste Professor für Film an der 1975 gegründeten Klasse der Kunstakademie und mit der legendären Düsseldorfer Künstlerkneipe „Creamcheese“auf der Documenta IV vertreten. Als erster Gipfel des Erfolgs wird das Filmfestival im belgischen Knokke genannt, wo Mommartz 1967 fulminanten Erfolg hatte und fortan als Experimenteller, als Avantgardist galt.
Mommartz ist einer von den guten Querdenkern, der unter Film von Anfang an etwas radikal anderes verstand als Hollywoods Filmemacher. In seinen Filmen gibt es kein Drehbuch, sondern es gelten Zufallsregeln, Spontaneität. Anders als das kommerzielle Kino drängt er uns das freigeistige AntiKino auf. Bloß nichts Dekoratives, Suggestives, alles andere als eine Illusionsmaschine. Realität, wie sie in den 1960er-jahren die Kunst als ein wichtiges Leitmotiv belebte.
„Das pure Sein vor der Kamera“war Mommartz wichtig, und als er auf Jospeh Beuys stieß, schuf er mit ihm das vielleicht erste große Schweigen in der Kunst, an das 50 Jahre später Marina Abramovic erfolgreich in ihrer Moma-performance anknüpfte. Der weltberühmte Niederrheiner mit Hut schaut 1969 mit festem Blick in Mommartz‘ Kamera und sagt kein Wort. „In der Langeweile habe ich gelernt, die Langeweile zu schätzen“, sagt Mommartz. Er kultiviert die lange Weile – etwa, wenn er einfach die Kamera zum Zugfenster heraushält und das aufnimmt, was jeder bestens kennt: zum Rattern auf den Schienen die vorbeirauschenden Bilder, die bei zunehmender Geschwindigkeit immer mehr verwischen. Von 1967 datiert dieser Film „Eisenbahn“, in dem das Monotone übersteigert wird bis hin zur Unerträglichkeit. Mommartz versteht darunter „eine Einladung mitzufahren und ein wenig über Film nachzudenken“.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass sich der Film in dieser Zeit erst zu einem progressiven künstlerischen Format entwickelte. Und Mommartz erweist sich mit jedem neuen Film als ein Theoretiker. Ein Mann, ein Film, ein Leben, eine ganze Welt – das geht einem beim Ansehen total unterschiedlicher Situationen durch den Kopf. Seine Filme, so sagt er, sind für ihn „eine Vorübung zum besseren Leben“.
Er propagiert den durchsichtigen Menschen und ist angetan von Greta Thunberg, die er in Seitensaal der Kunsthalle gegenüber von Beuys inszeniert. Der große Heilsbringer der jüngeren Kunstgeschichte in Konfrontation mit dem schwedischen Mädchen, das vielleicht auch eine Heilsbringerin ist. „Greta hat tatsächlich gezeigt, worum es geht“, sagt Mommartz. In diesen Aufnahmen schiebt sich immer wieder die altgewordene Männerhand vor das kindliche Gesicht, so als wollte er das Mädchen, wenn nicht dirigieren, so doch beschützen.
In Mommartz’ Filmen ist es immer wieder eine andere Gesellschaft, die sich unter dem Chronisten-blick entblößt und gebärdet. Ein Lieblingsthema: Dreiecksbeziehungen. Zwei Frauen, ein Mann (der er selber ist). Eine Trilogie gibt es von dieser die Weltliteratur nährende Beziehung. Auch hier gilt: Es wird natürlich nicht schöngefärbt, nicht theatralisiert, aber es wird die freie Liebe und Partnerwahl propagiert, was in den 60ern noch radikal war. Zeitgeist teilt sich nicht zu knapp mit, die Bikinis der gertenschlanken Frauen, das ständige Rauchen, das Knutschen und Flügelschlagen, oder das Ferienhaus im Süden. Egal, ob man diese Filme in der Ausstellung sieht oder auf Mommartz’ Webseite: Das Dreieck zwischen dem Dreher, der die Kamera führt, dem Darsteller, der nie ein Profi ist, und dem Zuschauer, dem das Ergebnis vorgeführt wird, ist spannungsreich. Genau das, was Mommartz offenbar interessiert.
Die Retrospektive in Düsseldorf, die vielleicht ab Ende Dezember zu sehen ist, veranstaltet künstlerische Purzelbäume mit dem vielschichtigen Filmschaffen. Die Mittel der mit dem Künstler zusammenarbeitenden Kuratoren sind Montage, Loop, Zeitlupe, Beschleunigung, Zersplitterung und Fragmentierung. Ein Gebirge aus Bildern und Tönen im Kinosaal ist das Ergebnis, daneben unzählige Einzelmotive im Obergeschoss.
Die Welt des Lutz Mommartz zieht ein in unsere Welt, bildet Schnittmengen der Wahrnehmung, die abhängig von Alter und Situation sind. Die Deutung ist das Spannende. Wenn zum Beispiel zwei Finger zweier verschiedener Hände langsam in der Kuhle übereinander streichen. Dann geht schnell die Fantasie auf Reisen. Mann und Frau? Liebe? Schon Erotik? Im Text steht: Eine Hand ist die von Günther Uecker. Mehr nicht. Kunst war kollektives Tun in jener Zeit. Der Nagelkünstler im „Creamcheese“Mommartz‘ Gefährte.
Dies alles ist unbedingt sehenswert. Und ein Manifest gegen die unerträgliche Süße der Seriensoße.