Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Ein System der Vertuschung
Bislang zählen die mit der Missbrauchs-studie des Bistums Münster betrauten Historiker rund 300 Betroffene und 200 Beschuldigte.
MÜNSTER Helmut Behrens ist Kaplan einer ländlichen Gemeinde im Bistum Münster, als er merkt, wie überfordert er als Seelsorger ist. Vor allem, wenn im Beichtstuhl von Sex die Rede ist. Er wendet sich 1979 hilfesuchend an den Leiter seines früheren Priesterseminars. In den Akten zum Gespräch heißt es: Behrens wirke depressiv, resigniert, unselbständig. Ihm wird eine Therapie verordnet, zehn Stunden bei einem kirchennahen Therapeuten sollen reichen. Der attestiert dem Kaplan, einsatzfähig zu sein, und soll ihm geraten haben, unverkrampfter mit Sexualität umzugehen. In seiner ersten Pfarrei in Neuscharrel wird Behrens mindestens drei minderjährige Jungen missbrauchen. Auch das wird der Bistumsleitung bekannt. Jetzt steckt man ihn – trotz unauffälliger Leberwerte – in eine Klinik für Alkoholkranke. Bald wird er entlassen und in eine andere Pfarrei versetzt. Als es dort zu weiteren sexuellen Übergriffen kommt, legt ihm der Personalchef und spätere Hamburger Erzbischof Werner Thissen 1986 den Austritt aus dem Klerikerstand nahe.
Diese Geschichte ist Teil einer am Mittwoch veröffentlichten Studie über sexuellen Missbrauch im Bistum Münster. Sie zeigt: Nicht allein der Priester war überfordert und wurde zum Täter. Auch das Bistum erkannte nicht die Situation, handelte falsch oder gar nicht, nahm Täter in Schutz. Eine Gruppe Historiker unter Leitung von Thomas Großbölting bekam für ihre Untersuchung seit gut einem Jahr freie Akteneinsicht im Bistum. Ein Zwischenergebnis für die im Frühjahr 2022 geplante Endfassung: Von 1945 bis 2018 zählte man bislang rund 300 Betroffene und 200 Beschuldigte. Wie so oft sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, so Großbölting. 70 Interviews seien bisher geführt und mehrere Hundert Akten ausgewertet worden. Der „Umgang mit der Verschriftlichung“im Bistum sei demnach „zurückhaltend“gewesen. Mit anderen Worten: Probleme ließ man lieber nicht aktenkundig werden.
Es geht in der bislang dritten Bistumsstudie nicht vordergründig um das quantitative Ausmaß des Missbrauchs, auch nicht um Täternamen. Obwohl neben Behrens noch die Pfarrer Bernhard Janzen, Franz Nienaber, Heinz Pottbäcker und der Bocholter Theo Wehren als Täter erwähnt werden. Die Historiker sind bemüht, die Strukturen zu beschreiben, die Missbrauch möglich machten oder begünstigten. Es geht um das System Kirche, um das „System Lettmann“, eine Kultur des Verschweigens und Vertuschens auch unter Bischof Reinhard Lettmann (1933–2013), der fast drei Jahrzehnte das Bistum leitete.
Aufschlussreich ist die „Chronik“des Missbrauchs im Bistum: Sie verzeichnet in den 50er-, besonders aber in den 60er- und 70er-jahren einen eklatanten Anstieg gemeldeter Missbrauchsfälle mit 31 beziehungsweise 15 Fällen. Klaus Große Kracht (Uni Münster) hält die unzureichende Auseinandersetzung der Kirche mit Fragen der Sexualität für eine der Ursachen. Der tiefgreifende Wertewandel habe die Kirche völlig unerwartet getroffen und nachhaltig irritiert. Ihre Reaktion darauf sei aber keine Auseinandersetzung gewesen, sondern der Rückzug, indem man die traditionelle Lehre verstärkte und sich in einem Amtsverständnis bestärkte. Auch wenn man dadurch auf die gewandelten Einstellungen der Gläubigen keine Antworten finden konnte, wie es der Fall Behrens anschaulich macht.
Die Kirche sei kein Opfer der damaligen Zeit gewesen, so Große Kracht: „Verantwortliches Handeln bestimmt sich dadurch, wie man auf äußere Umstände reagiert.“Zum „System Lettmann“gehört aber auch das System einer Gesellschaftselite. Dazu gehören neben Würdenträgern manchmal auch Staatsanwälte, Therapeuten. Ein oft informelles Zusammenwirken in brisanten Fällen führte am Ende dazu, nichts aufzuklären und Missbrauch dadurch weiter möglich zu machen. Selbst der Vatikan griff ein und verfügte 2001, dass sämtliche Missbrauchsfälle in Deutschland Rom zu melden seien – nach Ansicht der Historiker ein deutliches Misstrauensvotum gegenüber den Ortsbischöfen hierzulande.
Die Kirche blieb sprachlos, bis 2010 die breite Öffentlichkeit vom Ausmaß des Missbrauchs erfuhr. Betroffene wurden nun sprachfähig, gelegentlich sogar mit ihrem Klarnamen. Es wurde plötzlich viel gesprochen – und Aufklärung betrieben: mit der großen Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz vor zwei Jahren und den Einzelstudien der Bistümer, die nach und nach veröffentlicht werden.
In Münster wurden erstmals Historiker tätig, für Aachen und Köln war es die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl. Wobei das Kölner Erzbistum die Veröffentlichung ihres Berichts absagte und dies mit methodischen Mängeln begründete. Mitte März 2021 soll eine neue Untersuchung von einer anderen Kanzlei erarbeitet werden. Als ein Grund für die Kölner Zurückhaltung werden Persönlichkeitsrechte angeführt.
Darf man Namen von Tätern und Verantwortlichen nennen? Man gehe verantwortungsvoll mit der Veröffentlichung von Namen um, so die Historiker. Es geht um die Abwägung zwischen Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit. Wer immer „Gerichtsfestigkeit“verlange, würde jede Aufarbeitung verhindern: „Wenn man das zum Prüfstein macht, kann man nichts mehr veröffentlichen“, sagt Großbölting.