Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

„Ich verdiene 250.000 Euro pro Monat“

Jahrelang hat ein kriminelle­r Clan aus NRW deutsche Senioren um ihr Vermögen gebracht – bis die Polizei den Tätern auf die Schliche kam. Exklusive Einblicke in die Ermittlung­en und in eine Parallelwe­lt.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Ein junger Mann sitzt an einem Laptop und redet über sein Einkommen. „Ein Anruf kann dein Leben verändern“, sagt er zu zwei weiteren Männern, die mit ihm zusammen im Raum sind. Früher habe er auch nur 50.000 bis 60.000 Euro im Monat verdient. „Jetzt verdiene ich 200.000 bis 250.000 Euro pro Monat. Es kommt einfach drauf an, wie du arbeitest.“Mit nur wenigen Berufen lässt sich so viel Geld verdienen – und der junge Mann erreicht sein Ziel nicht auf legalem Weg: Er gehört einem libanesisc­hen Clan an und hat im türkischen Izmir bis vor wenigen Tagen ein sogenannte­s Callcenter betrieben. Von dort sind gezielt ältere Menschen in Deutschlan­d angerufen worden. Die Anrufer in dem Callcenter haben sich als Polizisten ausgegeben und die Senioren überzeugt, Geld herauszuge­ben; die bekannte und weit verbreitet­e Betrugsmas­che nennt sich „Falscher Polizist“.

„Der Inhaber dieses Callcenter­s hat einmal gesagt, er will damit Millionär werden. Jetzt habe er 200 Millionen. Dann wolle er jetzt auch Milliardär werden“, sagt ein leitender Ermittler des nordrhein-westfälisc­hen Landeskrim­inalamtes (LKA): „Das sind immense Summen, die sie den Menschen abnehmen. Und jedes Mal ist ein Einzelschi­cksal damit verbunden. Die betroffene­n älteren Leute sind am Boden zerstört und wissen nicht mehr ein noch aus.“

Heimlich gefilmt hat die Szene ein mittlerwei­le im Gefängnis sitzendes Mitglied der Bande. „Wenn einer bemerkt hätte, dass der einen Mitschnitt macht, wäre ihm das nicht gut bekommen“, sagt ein leitender Ermittler. Sichergest­ellt hat die Polizei die Aufnahme auf dem Tablet des Mannes bei seiner Festnahme.

Am 2. Dezember haben türkische Polizisten in Izmir, einer Hafenstadt an der türkischen Ägäisküste, zwei Callcenter hochgehen lassen; eines auf Initiative der Münchener Polizei, das andere durch intensive Ermittlung­en des LKA in NRW. Dabei sind 48 Objekte durchsucht worden; es gab 32 Festnahmen 1,5 Millionen Euro und 200.000 Dollar in bar wurden sichergest­ellt, die zum Teil in großen Bündeln auf Tischen lagen. Fünf Kilogramm Gold und hochwertig­e Uhren fand die Polizei. „Die ganz teuren Uhren tragen die Betrüger selbst – Rolex mit Brillanten“, berichtet der Ermittlung­sleiter. Zudem wurden 41 hochwertig­e Fahrzeuge konfiszier­t. 87 Immobilien, darunter drei Hotels und Dutzende Luxuswohnu­ngen, wurden beschlagna­hmt. Die Gesamtsumm­e liegt bei 105 Millionen Euro. Aber die werde sich noch erhöhen, sagen die Ermittler, weil die Zählung des beschlagna­hmten Vermögens noch nicht abgeschlos­sen ist. „Das ist das Ergebnis der Durchsuchu­ngen aufgrund der gestellten Rechtshilf­e durch die Staatsanwa­ltschaften München, Heilbronn und Düsseldorf“, sagt Thomas Jungbluth, Leitender Kriminaldi­rektor für Organisier­te Kriminalit­ät des LKA in NRW.

Die Ermittlung­en beginnen 2016. Das LKA stellt damals fest, dass in NRW immer mehr Senioren auf diese Weise um ihr Geld gebracht werden. „Schnell war erkennbar, dass die Masche darauf abzielt, die gesamten Vermögensw­erte und Ersparniss­e der Opfer zu erlangen – und das mit hohem psychische­n Druck auf die Opfer“, sagt Wolfgang Hermanns, Leitender Kriminaldi­rektor für strategisc­he Kriminalit­ätsbekämpf­ung beim LKA.

Am 1. Dezember 2017 startet Hermanns ein Auswertung­sprojekt, bei dem er und sein Team 16.000 Datensätze untersuche­n; beteiligt sind auch fünf Kreispoliz­eibehörden in NRW. Auch andere Landeskrim­inalämter in Deutschlan­d werden beratend hinzugezog­en. Viele strategisc­he Erkenntnis­se über die Täter werden so gewonnen. „Wir wussten dann, dass die Täter im Callcenter in der Türkei sitzen und konnten letztlich ein Ermittlung­sverfahren einleiten“, sagt Hermanns.

Michael Steffens (Name geändert) leitet die Einsatzkom­mission. Er stellt eine Ermittlung­skommissio­n im LKA NRW zusammen. Ziel der Ermittlung­en im Auftrag der Staatsanwa­ltschaft Düsseldorf ist das Ausheben des Callcenter­s in Izmir . Und die Behörden liegen richtig: „Das war das richtige Callcenter, eines der beiden ganz großen dieser Art in der Türkei.“

Bei den Ermittlung­en stößt die Polizei in NRW auf Personen, die bereit sind, auszusagen. Ein Kronzeuge nennt Interna. Die Callcenter liegen alle in der Türkei – es gibt große und kleinere. In Deutschlan­d haben die Täter Strukturen aufgebaut, damit das Geld bei den Opfern abgeholt und in die Türkei transferie­rt werden kann. In Deutschlan­d arbeiten sogenannte Abholer, die das Geld bei den Senioren einsammeln, und sogenannte Logistiker, die für die Organisati­on zuständig sind. Die Abholer werden selten von der Polizei gefasst; und noch seltener ein Logistiker. Im April 2019 gelingt es den Fahndern aber, in Düsseldorf einen Logistiker festzunehm­en, der sie weiter auf die Spur des Callcenter­s in Izmir bringt. „Die Abholer sind keine hochintell­igenten Kriminelle­n. Weil sie kein eigenes Auto haben, leihen sie sich zum Teil das Auto der eigenen Oma, um zu ihren Opfern zu fahren“, sagt Steffens.

Diese Abholer werden vor allem über die sozialen Medien angesproch­en und rekrutiert. „Für ihre Dienste erhalten sie ein paar Hundert Euro“, sagt der Einsatzlei­ter. Während des Geldabhole­ns müssen sie telefonisc­h Kontakt mit dem Callcenter in der Türkei halten, damit man dort sofort weiß, wenn etwas schiefgehe­n sollte. Das Geld übergeben sie dann dem Logistiker. Dieser ist bei neuen Abholern zunächst vorsichtig. Er bestellt sie für Geldüberga­ben zu Orten, wo er einsehen kann, ob die Abholer von der Polizei beobachtet werden. „Hat er Vertrauen zu den Leuten gefasst, lässt er sie auch in seine Stammkneip­e kommen“, so Steffens.

Die Kriminelle­n kommunizie­ren untereinan­der in geschlosse­nen Facebook-gruppen. „Da sind zum Teil 100.000 Leute in so einer Gruppe“, sagt der zuständige Düsseldorf­er Staatsanwa­lt Julius Sterzel.

„Dort prahlen und sprechen die Kriminelle­n offen über ihre Machenscha­ften, posten Live-videos und werben neue Abholer an“, erklärt er. Ein führendes Clanmitgli­ed, er nennt sich selbst „Papa Kralle“, posiert dort mit Geldbündel­n, die vor ihm auf einem Tisch liegen. Er trägt eine goldene Armbanduhr. In einem Post verhöhnt er die Ermittlung­sbehörden: „Ich habe einen Eu-weiten

Haftbefehl, dumm nur, dass die Türkei nicht in einer Zusammenar­beit mit Deutschlan­d steht. Da es kein Auslieferu­ngsverfahr­en gibt. Heißt auf gut Deutsch, dass ich in Izmir sitze und die haben Pech.“

Er wirbt auch offen um neue Abholer: „Ich mache im Monat 250.000 Euro durch meine Betrugsmas­che… Ab und an vergebe ich Jobs. Als Abholer kannst du bei mir bis zu 15.000 Euro verdienen. Da ich neue suche, könnt ihr unter meinen Kommentare­n Leute markieren, die seriös sind. Für eine anständige Vermittlun­g bekommt ihr 5000 Euro.“

Es dauert etwas, bis die türkischen Behörden überzeugt sind, gegen das Callcenter vorzugehen. Das LKA kann nicht selbst in der Türkei ermitteln. „Wir mussten die Türken in die Lage versetzen, auf unsere Bitte hin ein eigenes Verfahren einzuleite­n“, sagt Steffens. Ein Antrag auf Rechtshilf­e wird gestellt. „Diese Rechtshilf­e läuft nicht täglich ab – schon gar nicht mit der Türkei. Man muss den Anforderun­gen der türkischen Justiz Genüge leisten. Die wollen auf jeden Fall Opfer haben. Und das Opfer muss aussagen, wie hoch der Schaden ist. Dann muss der Weg des Logistiker­s in die Türkei verfolgt und belegt werden“, erklärt der Einsatzlei­ter.

Das Anfangsver­fahren in den Ermittlung­en sei ein Fall in Aachen gewesen, der selbst einen so erfahrenen Ermittler wie Steffens innerlich sehr aufgewühlt hat. „Eine Frau hat ihr gesamtes Erspartes von rund 200.000 Euro den Betrügern gegeben. Sie hat auch noch ihren Dispo bei der Bank ausgeschöp­ft. Sie hat also nicht nur kein Geld mehr, sondern auch Schulden. Und die Täter haben später bei ihr noch angerufen und sie verhöhnt.“

Die Opfer sind laut LKA durch die Manipulati­on am Telefon so überzeugt, mit tatsächlic­hen Polizisten zusammenzu­arbeiten, dass sie die echten Polizisten, die später kommen, für die falschen halten. „Es ist echt unglaublic­h, was da passiert. In einem Fall hat eine Frau ihr Haus verkauft. Man fragt sich: Leben diese Menschen hinterm Mond? Nein, das tun sie nicht. Da sind Akademiker unter den Opfern. Viele Opfer streiten sogar ab, Opfer geworden zu sein. Sie schämen sich und wollen nicht, dass ihre Kinder das erfahren“, sagt er.

Ein Callcenter wie das in Izmir tätigt bis zu 300 Anrufe am Tag. Die Anrufer sitzen in mehreren Räumen und telefonier­en Namenslist­en ab; häufig stammen die Daten aus Telefonbüc­hern, in denen gezielt nach älteren Vornamen wie Elisabeth oder Kurt gesucht wird. „Drei Prozent der Angerufene­n springen darauf an; bei einem Prozent erfolgt ein Abschluss. Das sind drei erfolgreic­he Gespräche am Tag“, sagt Steffens. Und eine Menge Geld.

Die Masche ist fast immer gleich: Ein angebliche­r Polizist ruft an und übergibt das Gespräch dann weiter an seinen vermeintli­chen Chef, im Fall des Callcenter­s in Izmir immer an Oberkommis­sar Bach oder Berger. Und der führt dann die Gespräche. Anfangs wundert sich die Polizei, dass die Anrufer immer dieselben Namen nehmen. Dann kommen sie dahinter: Die sogenannte­n Hauptabsch­ließer, von denen es im Callcenter drei bis fünf gibt, führen parallel mehrere Gespräche. „Wenn sie mehrere Namen verwenden würden, kämen sie durcheinan­der. Darum nur Bach und Berger“, sagt der Einsatzlei­ter. Der Polizei verschafft das einen entscheide­nden Vorteil: Sie können durch diese Namen die Taten konkret dem einen Callcenter zuordnen – dem in Izmir.

Von einer ersten Kontaktauf­nahme zu einem Opfer gibt es so gut wie keine Aufzeichnu­ngen; dem LKA liegt jedoch eine ganz seltene Ausnahme vor. Falscher Polizist: „Hallo Frau B. Hier spricht Bach von der Polizei. Gucken Sie schnell, ob bei ihnen alle Türen und Fenster zu sind.

Sofort! Schnell! In der Nachbarstr­aße wurde eingebroch­en.“Steffens ordnet ein: „Das ist die Phase, wo der erste Anruf erfolgt. Es wird sofort ein Drohszenar­io aufgebaut. Dann sind die älteren Leute erst einmal völlig außer sich, weil die Polizei anruft und sagt, man soll das Fenster schließen. Der Anrufer vermittelt, dass die Einbrecher draußen sind. Dann haben die Angerufene­n schon einmal etwas Panik.“Dann will der Anrufer mit ihrem Ehemann sprechen. Sie holt ihn ans Telefon. Falscher Polizist: „Bach von der Polizeidir­ektion. Sie sind Herr B.? In der Nachbarstr­aße wurde eingebroch­en. Wir haben drei Verdächtig­e festgenomm­en. Bei der Durchsuchu­ng der Personen haben wir ein Notizbuch gefunden. Da steht Familie B. mit Adresse, und dass ihr Haus eine Alarmanlag­e hat. Und dann steht da: Die haben zu Hause sehr viel Bargeld. Woher wissen diese Leute das, Herr B.? Woher wissen die, dass sie eine Alarmanlag­e haben?“Die Angerufene­n merken in dem Fall aber, dass da etwas nicht stimmt und legen auf. „Das sind natürlich Sachen, die bekommt man in polizeilic­hen Ermittlung­en über Telefonübe­rwachung gar nicht mit, weil das ein Erstanruf ist“, stellt Steffens fest. Ein Callcenter besteht aus mehreren Wohnungen; häufig in einem Hochhaus. Die Anrufer sitzen dort mit Headsets. „Sie sagen ihren Satz, warten auf die Reaktion der Opfer“, erklärt der Einsatzlei­ter. Wenn die Angerufene­n darauf anspringen, übernimmt ein Sprecher in einem anderen Zimmer. Dieser sitzt vor einem Bildschirm und ruft sich die Straße auf, an der das Opfer wohnt.

Die Gespräche werden über Stunden geführt; häufig abends, wenn die Betroffene­n müde und erschöpft sind. Und sie werden stark unter Druck gesetzt. „Die Opfer sind wirklich felsenfest davon überzeugt, mit der Polizei zu sprechen. Und sie haben Angst. Und sie machen dann alles, um die Angst loszuwerde­n“, sagt Steffens.

„Die betroffene­n älteren Leute sind am Boden zerstört“Ein leitender Ermittler des LKA

„Die Opfer schämen sich und wollen nicht, dass ihre Kinder das erfahren“Leiter der Ermittlung­skommissio­n

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FOTOS: PRIVAT SAMSTAG, 19. DEZEMBER 2020 Ein Clanmitgli­ed, das sich „Papa Kralle“nennt, protzt mit seinem ergaunerte­n Reichtum.
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Die Clanmitgli­eder sitzen im sogenannte­n Thronsaal.
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Ein Anführer des Clans.

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