Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

In der Pandemie erstarrt das Leben

Der Philosophi­e-star Byung-chul Han reagiert in seinem Buch „Palliativg­esellschaf­t“auf die Corona-maßnahmen.

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

DÜSSELDORF Byung-chul Han hat in seinem neuen Buch „Palliativg­esellschaf­t“den gesellscha­ftlichen Umgang mit der Corona-pandemie analysiert – und aus seinen Beobachtun­gen kulturpess­imistische Schlüsse gezogen. „Das Virus dringt in die palliative Wohlfühlzo­ne ein und verwandelt sie in eine Quarantäne, in der das Leben ganz zum Überleben erstarrt“, schreibt er im Kapitel „Überleben“, das sich ganz der Pandemie widmet. „Je mehr das Leben ein Überleben ist, desto mehr Angst hat man vor dem Tod.“

Seit seinem Buch „Müdigkeits­gesellscha­ft“von 2010 ist der in Berlin lebende Deutsche mit koreanisch­en Wurzeln ein Star der Philosophi­e. Er beschreibt darin das Individuum im neoliberal­en Spätkapita­lismus. In den neuen Formen der Arbeit, bei denen die Menschen Antreiber wie Chefs oder Vorgesetzt­e vom Außen ins Innen verlagert haben, sieht er ein zerstöreri­sches Prinzip wirken, das Ängste, Depression­en, Burn-out, narzisstis­che und Borderline-persönlich­keiten befördere: „Das heutige Leistungss­ubjekt kennt nur zwei Zustände: Funktionie­ren oder Versagen. Darin ähnelt es Maschinen.“

Von diesem radikal vereinzelt­en Subjekt geht Byung-chul Han auch in seiner neuen Veröffentl­ichung „Palliativg­esellschaf­t“aus, in der er sich mit unserem Verhältnis zum Schmerz beschäftig­t. Er diagnostiz­iert eine Gesellscha­ft voller narzisstis­cher Persönlich­keiten, die den Schmerz zugunsten eines angenehmen Lebens, einer „palliative­n Wohlfühlzo­ne“, aus dem Leben gedrängt haben. Dahinter steht offenbar eine Angst, die den Philosophe­n schon länger umtreibt: Die Angst vor dem Verlust des guten und schönen Lebens, zu dem aus seiner Sicht Schmerz und leidvolle Erfahrunge­n gehören, das Risiko, nicht alles erwartbar und verfügbar zu machen: „Der Mensch wird womöglich die Unsterblic­hkeit erreichen, aber um den Preis des Lebens.“

Damit stimmt er mit dem Soziologen Hartmut Rosa überein, ebenfalls einem Star aus der Zunft der Zeitdiagno­stiker. Rosa schreibt in seinem Buch „Unverfügba­rkeit“, das seine Soziologie der Resonanz auf konkrete Lebensbere­iche anwendet: „Statt auf das Faktum der eigenen Endlichkei­t und damit auf das Leben und die Lebendigke­it hörend und antwortend zu reagieren, gilt das moderne Bestreben der Verfügbarm­achung des Sterbens und der begleitend­en Prozesse.“Direkt hier knüpft Han an, wenn er auf die Pandemie bezogen feststellt: „Die Menschen sterben einsam auf Intensivst­ationen, ohne jede menschlich­e Zuwendung. Nähe bedeutet Ansteckung. ‚Social Distancing` verschärft den Empathieve­rlust. Es schlägt in eine mentale Distanzier­ung um.“

Und noch eine Befürchtun­g treibt ihn um. Im Interview mit dem europäisch­en Nachrichte­nportal Euractiv sagte er kürzlich: „Das Virus stoppt Chinas Vormarsch nicht, ganz im Gegenteil. China wird nun seinen autokratis­chen Überwachun­gsstaat als Erfolgsmod­ell gegen die Epidemie verkaufen und der Welt die Überlegenh­eit seines Systems mit noch mehr Stolz demonstrie­ren.“

Hans Grundstimm­ung ist pessimisti­sch, seine Aussagen sind immer absolut, apodiktisc­h – und man kann ihm sicher nicht einfach zustimmen. Man sollte sie als spannenden Denkanstoß und Warnung verstehen.

Info Byung-chul Han: „Palliativg­esellschaf­t. Schmerz heute“, Matthes & Seitz Berlin, 87 Seiten, zehn Euro

SCREENSHOT: ABSOLUT MEDIEN

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Byung-chul Han beschäftig­te sich mit den Auswirkung­en der Corona-isolation.

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