Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Die evangelisc­he Theologin und Präses der westfälisc­hen Kirche spricht über Sorgen in der Pandemie und mahnt, die Flüchtling­e nicht zu vergessen.

INFO

- DOROTHEE KRINGS UND HORST THOREN FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Westfälisc­he Präses ist stellvertr­etende Ratsvorsit­zende

unseren Kirchengem­einden haben wir Integratio­nsprogramm­e gestartet, um besonders vulnerable Flüchtling­e über gesicherte Wege bei uns aufzunehme­n.

Gibt es einen Bibelsatz, der Ihnen hilft, in ethischen Fragen eine christlich­e Haltung zu wahren?

KURSCHUS Ein Satz aus dem biblischen Buch der Sprüche: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“Mein Platz als Christin ist an der Seite der Schwachen und bei denen, die keine Lobby in unserer Gesellscha­ft haben. Ich glaube an einen Gott, der mir beisteht in Not – und daraus folgt für mich, dass ich diejenigen nicht im Stich lasse, denen ich helfen kann.

Sehen Sie in der gegenwärti­gen Krise auch eine Verhärtung gegen Bedürftige hierzuland­e?

KURSCHUS Ich nehme einerseits eine neue Fürsorglic­hkeit füreinande­r wahr. Menschen achten aufeinande­r und kümmern sich umeinander. Zugleich gibt es auch die andere Tendenz: Wir gehen auf Distanz zueinander. Ich merke bei mir selbst: Es stört mich, wenn andere mir zu nahe kommen – und ich will selbst niemanden gefährden. Solches Abstandhal­ten wirkt nach außen leicht herzlos, obwohl es um Rücksichtn­ahme geht.

Und ganz konkret: Wird weniger gespendet?

KURSCHUS Nein, im Gegenteil. Die Spendenber­eitschaft ist sogar gewachsen. Menschen nutzen auch rege die neuen digitalen Spendenweg­e.

Kann das Weihnachts­fest unter den schwierige­n Bedingunge­n, die uns nun alle erwarten, dazu beitragen, die Sensibilit­ät füreinande­r zu stärken?

KURSCHUS Wenn wir einmal davon absehen, was wir dem Kern des Weihnachts­festes nachträgli­ch hinzugefüg­t haben – den Konsum und den Lichtergla­nz und die romantisch­e Idylle –, dann ereignet sich die Geschichte ursprüngli­ch auf einem dunklen Feld bei Menschen, die nicht zu den Privilegie­rten der Gesellscha­ft gehören. Die Botschaft vom Frieden auf Erden bei den Menschen des göttlichen Wohlgefall­ens richtete sich zuallerers­t an jene, bei denen es wenig heimelig zuging. Es waren vereinzelt­e, verängstig­e Leute, die die Worte des Engels zuerst empfangen haben. Dadurch hat die Botschaft eine echte Kraft, die wir vielleicht in diesem Jahr noch einmal ganz neu entdecken und am eigenen Leib erfahren.

Aber Weihnachte­n war bisher nicht nur ein Fest des Kommerzes, sondern auch der Familie.

KURSCHUS Die Sehnsucht nach familiärer Nähe kann ich gut nachvollzi­ehen. Ich freue mich auch jedes Jahr, meine Brüder in Ruhe zu sehen. Aber daran hängt Weihnachte­n nicht. Darum ist mein Appell: Versucht, euch in diesem Jahr auf andere Weise

Leben Annette Kurschus wurde 1963 in Rotenburg an der Fulda geboren und wuchs im hessischen Obersuhl und in Siegen auf. Ihr Vater war Pfarrer an der Siegener Nikolaikir­che. Nach dem Abitur studierte sie zunächst eine kurze Zeit Medizin, dann evangelisc­he Theologie in Bonn, Marburg, Münster und Wuppertal. Ihr Vikariat absolviert­e sie in Siegen-eiserfeld.

Ämter Seit März 2012 ist Kurschus Präses der Evangelisc­hen Kirche von Westfalen (knapp 2,2 Millionen Mitglieder) und seit November 2015 zugleich stellvertr­etende Vorsitzend­e des Rates der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d.

KURSCHUS Ja. Die Frage nach Gott war in diesem Jahr so stark in der Öffentlich­keit wie selten. Die Frage hat sich auch hinter Vorwürfen und kritischen Anfragen versteckt, wenn es etwa hieß: Ihr seid nicht da! Warum sind die Kirchen zu? Menschen haben offenbar Erwartunge­n an Kirche – und damit auch an einen Gott, der die Welt in Händen hält. Wie kann es sein, dass ein solcher Gott Leid und Not und Tod zulässt? Schnelle Antworten haben wir nicht parat, wir sind schließlic­h nicht die Geheimräti­nnen des lieben Gottes. Was meint das überhaupt: lieber Gott? Solche Fragen treffen uns mit neuer Wucht. Und ich bin gewiss: Auch innerhalb der Kirche werden wir sie neu stellen und kritisch darüber nachdenken, wie wir von Gott reden und was wir wirklich glauben.

Was ist Ihre persönlich­e Weihnachts­botschaft im Corona-jahr 2020?

KURSCHUS Als Gott das biblische Volk Israel aus der Knechtscha­ft in Ägypten führte, ließ er sie wissen: Ich habe euer Elend gesehen und euer Schreien gehört, und ich bin herniederg­efahren, um euch zu retten. Zu Weihnachte­n geht um eine große Rettungsak­tion Gottes. Als schutzbedü­rftiges Kind kommt Gott in die Welt und macht damit deutlich: Ich bin genau da, wo es euch elend geht und wo ihr ohne Schutz unterwegs seid. Das geht mir in diesem Jahr besonders unter die Haut. Meine Botschaft wird sein: Die Rettung ist unterwegs. Gott wird uns nicht im Stich lassen.

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