Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die evangelische Theologin und Präses der westfälischen Kirche spricht über Sorgen in der Pandemie und mahnt, die Flüchtlinge nicht zu vergessen.
INFO
Westfälische Präses ist stellvertretende Ratsvorsitzende
unseren Kirchengemeinden haben wir Integrationsprogramme gestartet, um besonders vulnerable Flüchtlinge über gesicherte Wege bei uns aufzunehmen.
Gibt es einen Bibelsatz, der Ihnen hilft, in ethischen Fragen eine christliche Haltung zu wahren?
KURSCHUS Ein Satz aus dem biblischen Buch der Sprüche: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“Mein Platz als Christin ist an der Seite der Schwachen und bei denen, die keine Lobby in unserer Gesellschaft haben. Ich glaube an einen Gott, der mir beisteht in Not – und daraus folgt für mich, dass ich diejenigen nicht im Stich lasse, denen ich helfen kann.
Sehen Sie in der gegenwärtigen Krise auch eine Verhärtung gegen Bedürftige hierzulande?
KURSCHUS Ich nehme einerseits eine neue Fürsorglichkeit füreinander wahr. Menschen achten aufeinander und kümmern sich umeinander. Zugleich gibt es auch die andere Tendenz: Wir gehen auf Distanz zueinander. Ich merke bei mir selbst: Es stört mich, wenn andere mir zu nahe kommen – und ich will selbst niemanden gefährden. Solches Abstandhalten wirkt nach außen leicht herzlos, obwohl es um Rücksichtnahme geht.
Und ganz konkret: Wird weniger gespendet?
KURSCHUS Nein, im Gegenteil. Die Spendenbereitschaft ist sogar gewachsen. Menschen nutzen auch rege die neuen digitalen Spendenwege.
Kann das Weihnachtsfest unter den schwierigen Bedingungen, die uns nun alle erwarten, dazu beitragen, die Sensibilität füreinander zu stärken?
KURSCHUS Wenn wir einmal davon absehen, was wir dem Kern des Weihnachtsfestes nachträglich hinzugefügt haben – den Konsum und den Lichterglanz und die romantische Idylle –, dann ereignet sich die Geschichte ursprünglich auf einem dunklen Feld bei Menschen, die nicht zu den Privilegierten der Gesellschaft gehören. Die Botschaft vom Frieden auf Erden bei den Menschen des göttlichen Wohlgefallens richtete sich zuallererst an jene, bei denen es wenig heimelig zuging. Es waren vereinzelte, verängstige Leute, die die Worte des Engels zuerst empfangen haben. Dadurch hat die Botschaft eine echte Kraft, die wir vielleicht in diesem Jahr noch einmal ganz neu entdecken und am eigenen Leib erfahren.
Aber Weihnachten war bisher nicht nur ein Fest des Kommerzes, sondern auch der Familie.
KURSCHUS Die Sehnsucht nach familiärer Nähe kann ich gut nachvollziehen. Ich freue mich auch jedes Jahr, meine Brüder in Ruhe zu sehen. Aber daran hängt Weihnachten nicht. Darum ist mein Appell: Versucht, euch in diesem Jahr auf andere Weise
Leben Annette Kurschus wurde 1963 in Rotenburg an der Fulda geboren und wuchs im hessischen Obersuhl und in Siegen auf. Ihr Vater war Pfarrer an der Siegener Nikolaikirche. Nach dem Abitur studierte sie zunächst eine kurze Zeit Medizin, dann evangelische Theologie in Bonn, Marburg, Münster und Wuppertal. Ihr Vikariat absolvierte sie in Siegen-eiserfeld.
Ämter Seit März 2012 ist Kurschus Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen (knapp 2,2 Millionen Mitglieder) und seit November 2015 zugleich stellvertretende Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.
KURSCHUS Ja. Die Frage nach Gott war in diesem Jahr so stark in der Öffentlichkeit wie selten. Die Frage hat sich auch hinter Vorwürfen und kritischen Anfragen versteckt, wenn es etwa hieß: Ihr seid nicht da! Warum sind die Kirchen zu? Menschen haben offenbar Erwartungen an Kirche – und damit auch an einen Gott, der die Welt in Händen hält. Wie kann es sein, dass ein solcher Gott Leid und Not und Tod zulässt? Schnelle Antworten haben wir nicht parat, wir sind schließlich nicht die Geheimrätinnen des lieben Gottes. Was meint das überhaupt: lieber Gott? Solche Fragen treffen uns mit neuer Wucht. Und ich bin gewiss: Auch innerhalb der Kirche werden wir sie neu stellen und kritisch darüber nachdenken, wie wir von Gott reden und was wir wirklich glauben.
Was ist Ihre persönliche Weihnachtsbotschaft im Corona-jahr 2020?
KURSCHUS Als Gott das biblische Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten führte, ließ er sie wissen: Ich habe euer Elend gesehen und euer Schreien gehört, und ich bin herniedergefahren, um euch zu retten. Zu Weihnachten geht um eine große Rettungsaktion Gottes. Als schutzbedürftiges Kind kommt Gott in die Welt und macht damit deutlich: Ich bin genau da, wo es euch elend geht und wo ihr ohne Schutz unterwegs seid. Das geht mir in diesem Jahr besonders unter die Haut. Meine Botschaft wird sein: Die Rettung ist unterwegs. Gott wird uns nicht im Stich lassen.