Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Trotz allem
Weihnachten 2020 kommt auf seinen eigentlichen Kern zurück: die Familie. Damit steht es im Zeichen von Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis. Das ist nicht das Schlechteste.
Weihnachten allein zu Haus? Bislang unvorstellbar, 2020 wohl häufig Realität. Wo bislang viele zusammenkamen, weil Tradition und Familiensinn das einforderten, konzentriert sich jetzt alles auf den kleinen Kreis. Damit scheint eine Bastion der Familie in ihrem weitesten Sinne in Gefahr. Die Pandemie erreicht den gesellschaftlichen Kern von Weihnachten, denn das „Fest der Feste“zeugt vom familiären Zusammenhalt: Wer nicht eingeladen wird, gehört nicht dazu. Wer wegbleibt, schließt sich aus.
Waren es bislang die Vergessenen, die im Altenheim oder in ihrem alten Häuschen vergeblich auf Weihnachtsbesuch warteten, leiden dieses Mal auch die Aktiven, Gesunden. Kinder, so sagt eine Umfrage, vermissen Heiligabend unterm Tannenbaum am meisten Opa und Oma – nicht nur der Geschenke wegen. Sosehr die Pandemie auch das Leben verändert und das Miteinander gestört hat, gewachsen ist offenbar der innere Zusammenhalt. Zwar sorgte sich schon im ersten Lockdown ein Fünftel aller Befragten, wegen der Kontaktsperren könne es zur Entfremdung kommen, doch ebenso viele verspürten ein deutliches Mehr an Fürsorge. Die Corona-krise offenbart, wie es um unsere Gesellschaft bestellt ist. Der Kinderschutzbund berichtet von wunderbaren Zeichen der Solidarität: Ältere sind bereit zum Verzicht für die junge Generation, Kinder kümmern sich um Betagte.
Die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit, in jeder Krise besonders hoch, findet Ausdruck im verstärkten Wunsch nach familiärem Miteinander. Ein Düsseldorfer Zukunftsforscher spricht von einer Neubesinnung: „Die Familie wird wertvoller als jede Geldanlage.“
Dabei geht es längst nicht mehr allein um das traditionelle Familienmodell. Waren vormals Vater, Mutter und zwei Kinder der Nrw-standard, so sind mittlerweile andere Lebensformen mitbestimmend. Offen gelebte gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Ehen sind keine Seltenheit mehr. Immer mehr Kinder werden nur von einem Elternteil betreut. In immer weniger Haushalten leben überhaupt Kinder. Patchwork-familien entstehen aus neuen Partnern und deren Kindern aus früheren Beziehungen. Die Familie von heute ist vielfältig. Außen vor bleiben an Weihnachten 2020, so von der Politik explizit in der Corona-schutzverordnung angeordnet, in der Regel alle, die nicht zur Kernfamilie gehören und zu dieser nicht in enger verwandtschaftlicher Beziehung stehen. Das trifft viele, die ihren Lieben zwar von Herzen nahe sind, aber weder durch Blutsbande noch Wohn- und Lebensgemeinschaft Nähe nachweisen können. Emotionale Bindung reicht diesmal nicht aus, um die Erlaubnis zum Mitfeiern zu erhalten. Weihnachten 2020 wird anders. Zwangsläufig.
Wohl auch deshalb herrschen bei weiten Teilen der Bevölkerung Sorge, Trauer oder Unbehagen vor, weil diesmal nicht möglich scheint, was über Jahrzehnte selbstverständlich war. O je, du Fröhliche! Vermisst wird schon jetzt, was den Menschen jenseits des guten Essens und der Geschenke wichtig ist – das Miteinander beim Weihnachtsfest, das auch in Zeiten des familiären Wandels Symbol von Geborgenheit geblieben ist.
Wie es um die tatsächliche Herzenswärme bestellt ist, lässt sich diesmal noch besser prüfen – in der Familie, bei den Freunden, bei sich selbst. Dabei ist wohl nicht entscheidend, ob wie gewohnt alle kommen können und in trauter Gemeinsamkeit singen. Auf die innere Bindung kommt es an. Denn der „Geist der Weihnacht“drückt sich in vielen Formen der Anteilnahme aus. Dabei gibt es die Nehmer- und die Geberperspektive. Denkt jemand an mich, an wen denke ich? Trotz allem: An Heiligabend 2020 sind weder das Weihnachtsfest noch die Familien in Gefahr. Denn in der Pandemie können die überlieferten Strukturen und Rituale, über die Jahre (und ganz ohne Virus!) deutlichen Auflösungserscheinungen ausgesetzt, eine neue, stärkende Wertigkeit erhalten. Das Bewusstsein greift um sich, dass Krisen am besten gemeinsam überwunden werden. Das andere Weihnachten 2020, durch den harten Lockdown erzwungen, kann eine Gesellschaft im Wandel näher zusammenführen. Dabei hilft, was Papst wie Politiker gern verkünden: „Die Familie ist ein Schatz, den man behüten muss.“
Zu viel Nähe kann aber auch zu Einengung führen. Früher hieß das Bemutterung, heutzutage sind auch Väter betroffen. Übersteigerte Fürsorge und Angst vor Kontrollverlust bestimmen das Rollenverständnis der sogenannten Helikoptereltern, die ihre Kinder nicht aus den Augen lassen und am liebsten mit dem Auto bis ins Klassenzimmer bringen wollen. Ihnen fehlt, was Pädagogen von guten Eltern erwarten: die Fähigkeit zum Loslassen. Dem Kind etwas zuzutrauen, setzt wohl auch die Bereitschaft voraus, sich selbst zurückzunehmen. So kann Abstand zu Nähe führen. Wer die heilige Familie sucht, wird sie daheim kaum finden.
Und auch die heile Familie, von Mutter Beimer in der „Lindenstraße“über drei Jahrzehnte ersehnt, bleibt vielerorts ein Wunschbild. Es geht um die eigene Familie mit ihren Besonderheiten, Bräuchen, Schrullen. Jeder hat seine eigene Vorstellung von Geborgenheit und Miteinander, die sich häufig auf einen Termin konzentriert: Heiligabend. Jenseits vom Festmahl (ob Gans oder Würstchen mit Kartoffelsalat) soll dieser Abend erfüllen, was mit dem Begriff Familie verbunden wird – das Glücksgefühl des Zu-hauseSeins. Allerdings klaffen Wunsch und Wirklichkeit oft auseinander, empfindet der eine oder andere das Ende des Abends als Erlösung.
Wenn auch die Mehrheit der Deutschen Weihnachten inzwischen zum Brauchtum zählt und kaum 40 Prozent das Religiöse betonen, lohnt doch ein Blick in die Bibel, auf die heilige Familie und ihre Konflikte. Da ist Josef, der sich zunächst davonmachen wollte, als er erfuhr, dass seine Verlobte Maria schwanger war, und zwar nicht von ihm. Josef blieb, war der Kümmerer, der tat, was nötig war – für ein fremdes Kind. Da ist Maria, die nicht klammerte und den jungen Jesus gewähren ließ, auch wenn sie sein Handeln kaum verstand. Und Jesus selbst lässt später Mutter und Brüder vor der Türe stehen, weil ihm in diesem Augenblick die Gemeinschaft anderer wichtiger ist als die eigene Familie.
Heiligabend 2020 sollte nicht mit Erwartungen überfrachtet werden, schon gar nicht mit negativen Vorahnungen. Vielleicht ist es einmal ganz schön, im kleineren Kreis zu feiern, zu singen, sich zu freuen. Und mancher empfindet diese Form des Festes gar als Entlastung, weil er um seine Gesundheit fürchtet und so der Notwendigkeit entgeht, lieben Menschen absagen zu müssen.
Bleibt der Weihnachtswunsch. Selbst Kinder bitten in Briefen ans Christkind um Gesundheit für die ganze Familie und erwähnen dabei auch Oma und Opa. Die frohe Botschaft von Glaube, Liebe, Hoffnung weist den Weg zum Kern allen Miteinanders. Die Politik spricht gern von Solidarität. Die Gläubigen – und alle Menschen guten Willens – wissen um die stärkende Kraft der Liebe.
Trotz allem:
Gesegnete Weihnachten.
Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf. ( Jesaja 9, 1)