Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Corona zeigt uns die Grenzen auf
ANALYSE In der Pandemie gewinnt der Nationalstaat als Krisenmanager an Bedeutung. Doch ganz allein kann er den globalen Herausforderungen nicht begegnen. Und der Begriff der Nation sollte neu diskutiert werden.
Fast schien es, als hätte sich das mit den Nationen bald erledigt. Die Globalisierung mit ihren Daten-, Waren- und Menschenströmen schien Grenzen überflüssig zu machen. Seltsam mickrig wirken die Nationalstaaten etwa gegen globale Konzerne wie Apple oder Amazon, wenn es ans Steuerzahlen geht. Soziologen mit feiner Witterung für die Zukunft wie Ulrich Beck sprachen darum schon vor der Jahrtausendwende von der Transformation der Nationalstaaten in eine Weltgesellschaft, beobachteten, wie die neuen Kosmopoliten ihre Laptops mal hier, mal dort aufklappten.
Dann kam Corona. Plötzlich werden Grenzen geschlossen, Reiseverbindungen rigoros gekappt wie gerade nach Großbritannien. Im Frühjahr holten viele Staaten ihre Bürger auf ihr Territorium zurück. Man sah Bilder gestrandeter Touristen, die nur noch nach Hause wollten. Sinnbilder waren das. Auf einmal schien die Dynamik der Entgrenzung beendet.
Natürlich gab es die Rückbesinnung auf die eigene Nation als Halt in der flüchtigen Moderne auch schon vor Corona. Und auch die rechtsradikale Variante. Doch erst mit Corona scheint der Nationalstaat als wichtigste Ebene der Krisenmanager ein echtes Comeback zu erleben. Die Länder Europas gehen unterschiedliche Wege in der Pandemiebekämpfung. Und wenn dieser Tage gleichzeitig in der EU das große Impfen beginnt, ist das kaum mehr als ein spätes Bemühen um Solidarität nach Monaten der Alleingänge.
Noch dazu ein Zeichen, das mindestens ambivalent wirkt, wird beim Eu-aussteiger Großbritannien und in den USA doch längst geimpft. Die große EU scheint mit ihrer Bestellstrategie und ihrer Zulassungssorgfalt ins Hintertreffen geraten zu sein. Der agile Nationalstaat mit seinen eindeutigen Zuständigkeiten und potenziell verschließbaren Grenzen scheint reaktionsschneller, krisentauglicher.
Allerdings gab es auch von Anfang an Proteste gegen die Grenzschließungen. Man hat sich doch etwa am Niederrhein längst daran gewöhnt, mal schnell in die Niederlande zu fahren zum Spazieren, Einkaufen, ins Ferienhaus. Die Politologin Ulrike Guérot, Professorin an der Donau-universität Krems in Österreich, nennt andere Beispiele für die Bereitschaft vieler Bürger, über das Nationale hinwegzudenken. Da ist etwa die Initiative „Citizens take over Europe“, eine von Eu-bürgern im Internet geführte Konferenz, bei der jeden Mittwoch an einer Verfassung für Europa geschrieben wird. Die Idee: Europa zu einem souveränen Verfassungsstaat zu machen. Oder die von britischen Bürgern eingereichte Klage, die gerade beim Europäischen Gerichtshof geprüft wird. Die Briten wollen klären lassen, ob durch den Brexit jeder einzelne Brite seinen Status als europäischer Bürger verliert – denn eigentlich ist eine Staatsbürgerschaft unveräußerlich.
Dahinter steht die Idee, dass die EU zugleich Staaten- und Bürgerunion ist und es zumindest theoretisch vorstellbar wäre, dass das Vereinigte Königreich als Staat aus der EU austritt, die Briten aber europäische Bürger bleiben. Allein die Prüfung der Klage zeigt, dass die Vorstellung nicht völlig absurd ist. „Es ist also offen, ob sich die Geschichte in Richtung nationaler Überhitzung weiterentwickelt, wie es etwa das Erstarken rechter Kräfte in vielen Eu-staaten nahelegt“, sagt Guérot, „oder ob die europäische Integration nicht an anderen Orten mit anderen Akteuren intensiv vorangetrieben wird.“Es sind gegensätzliche Bewegungen parallel im Gange: die Überwindung des Nationalstaats und sein Wiedererstarken.
In ihrem Buch „Die Wiedererfindung der Nation“beschäftigt sich Aleida Assmann mit Kraft und Gefahr der Idee der Nation. „Sie hat die Macht und Magie, Menschen zusammenzubinden, aber sie entwickelt damit auch die Gewalt, Menschen auszugrenzen und zu vernichten“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin. Sie beklagt, dass in Deutschland aufgrund der Erfahrungen in der Geschichte eine Debatte darüber ausbleibt, wie ein moderner, ziviler, diverser Nationenbegriff aussehen könnte. Das überlässt das Feld jenen, die den Nationalstaat als ewige Größe mit fester Identität darstellen und anhand eigener kultureller Kriterien festlegen wollen, wer dazugehört und wer nicht.
In Wahrheit gebe es aber große kulturelle Unterschiede innerhalb von Nationen, sagt Guérot, davon könnten etwa Rheinländer und Bayern ein Lied singen. Was Menschen in Köln und München verbinde, sei, dass sie im selben politischen System lebten, dieselben Rechte und Pflichten besäßen. Das mache ihr Deutschsein aus – jenseits kultureller Identitäten. Für Guérot sind es historische Momente auf dem Weg zur Demokratie, wie das Hambacher Fest 1832 oder die Nationalversammlung in der Paulskirche 1848, in denen die deutsche Nation zu sich selbst fand. „Uns macht zu Deutschen, dass wir irgendwann einmal ,Einigkeit und Recht und Freiheit' gerufen haben, Bayern wie Sachsen, und auf diesen Werten gemeinsam einen Staat gründen wollten“, sagt Guérot. „Das war ein Prozess, die Nation ist nicht vom Himmel gefallen.“
Vertreter eines Nationenbegriffs, der sich auf die Verfassung bezieht, müssen sich nicht gegen Deutschtümelei abgrenzen. Ihre Vorstellung von Nation bezieht sich nicht auf Blut und Boden, sie grenzt Menschen anderer Herkunft nicht aus, sondern bezieht ihre Kraft aus dem positiven Bezug auf gemeinsame freiheitliche Werte und deren Niederschlag im politischen System. Allerdings ist ein Verfassungsstaatsbegriff ähnlich nüchtern wie Verfassungspatriotismus. Auch weil es in Deutschland eben keine ungebrochene Erzählung von der Errichtung der Demokratie gibt.
Ob es einmal ein Europa geben wird, das souverän wie ein Nationalstaat entscheidet, bleibt abzuwarten. Dem jetzigen Europa, das lauter Nationalstaaten vereint, zeigt Corona seine Grenzen auf.
„Es ist offen, ob sich die Geschichte in Richtung nationaler Überhitzung entwickelt“Ulrike Guérot Politikwissenschaftlerin