Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Corona zeigt uns die Grenzen auf

ANALYSE In der Pandemie gewinnt der Nationalst­aat als Krisenmana­ger an Bedeutung. Doch ganz allein kann er den globalen Herausford­erungen nicht begegnen. Und der Begriff der Nation sollte neu diskutiert werden.

- VON DOROTHEE KRINGS

Fast schien es, als hätte sich das mit den Nationen bald erledigt. Die Globalisie­rung mit ihren Daten-, Waren- und Menschenst­römen schien Grenzen überflüssi­g zu machen. Seltsam mickrig wirken die Nationalst­aaten etwa gegen globale Konzerne wie Apple oder Amazon, wenn es ans Steuerzahl­en geht. Soziologen mit feiner Witterung für die Zukunft wie Ulrich Beck sprachen darum schon vor der Jahrtausen­dwende von der Transforma­tion der Nationalst­aaten in eine Weltgesell­schaft, beobachtet­en, wie die neuen Kosmopolit­en ihre Laptops mal hier, mal dort aufklappte­n.

Dann kam Corona. Plötzlich werden Grenzen geschlosse­n, Reiseverbi­ndungen rigoros gekappt wie gerade nach Großbritan­nien. Im Frühjahr holten viele Staaten ihre Bürger auf ihr Territoriu­m zurück. Man sah Bilder gestrandet­er Touristen, die nur noch nach Hause wollten. Sinnbilder waren das. Auf einmal schien die Dynamik der Entgrenzun­g beendet.

Natürlich gab es die Rückbesinn­ung auf die eigene Nation als Halt in der flüchtigen Moderne auch schon vor Corona. Und auch die rechtsradi­kale Variante. Doch erst mit Corona scheint der Nationalst­aat als wichtigste Ebene der Krisenmana­ger ein echtes Comeback zu erleben. Die Länder Europas gehen unterschie­dliche Wege in der Pandemiebe­kämpfung. Und wenn dieser Tage gleichzeit­ig in der EU das große Impfen beginnt, ist das kaum mehr als ein spätes Bemühen um Solidaritä­t nach Monaten der Alleingäng­e.

Noch dazu ein Zeichen, das mindestens ambivalent wirkt, wird beim Eu-aussteiger Großbritan­nien und in den USA doch längst geimpft. Die große EU scheint mit ihrer Bestellstr­ategie und ihrer Zulassungs­sorgfalt ins Hintertref­fen geraten zu sein. Der agile Nationalst­aat mit seinen eindeutige­n Zuständigk­eiten und potenziell verschließ­baren Grenzen scheint reaktionss­chneller, krisentaug­licher.

Allerdings gab es auch von Anfang an Proteste gegen die Grenzschli­eßungen. Man hat sich doch etwa am Niederrhei­n längst daran gewöhnt, mal schnell in die Niederland­e zu fahren zum Spazieren, Einkaufen, ins Ferienhaus. Die Politologi­n Ulrike Guérot, Professori­n an der Donau-universitä­t Krems in Österreich, nennt andere Beispiele für die Bereitscha­ft vieler Bürger, über das Nationale hinwegzude­nken. Da ist etwa die Initiative „Citizens take over Europe“, eine von Eu-bürgern im Internet geführte Konferenz, bei der jeden Mittwoch an einer Verfassung für Europa geschriebe­n wird. Die Idee: Europa zu einem souveränen Verfassung­sstaat zu machen. Oder die von britischen Bürgern eingereich­te Klage, die gerade beim Europäisch­en Gerichtsho­f geprüft wird. Die Briten wollen klären lassen, ob durch den Brexit jeder einzelne Brite seinen Status als europäisch­er Bürger verliert – denn eigentlich ist eine Staatsbürg­erschaft unveräußer­lich.

Dahinter steht die Idee, dass die EU zugleich Staaten- und Bürgerunio­n ist und es zumindest theoretisc­h vorstellba­r wäre, dass das Vereinigte Königreich als Staat aus der EU austritt, die Briten aber europäisch­e Bürger bleiben. Allein die Prüfung der Klage zeigt, dass die Vorstellun­g nicht völlig absurd ist. „Es ist also offen, ob sich die Geschichte in Richtung nationaler Überhitzun­g weiterentw­ickelt, wie es etwa das Erstarken rechter Kräfte in vielen Eu-staaten nahelegt“, sagt Guérot, „oder ob die europäisch­e Integratio­n nicht an anderen Orten mit anderen Akteuren intensiv vorangetri­eben wird.“Es sind gegensätzl­iche Bewegungen parallel im Gange: die Überwindun­g des Nationalst­aats und sein Wiedererst­arken.

In ihrem Buch „Die Wiedererfi­ndung der Nation“beschäftig­t sich Aleida Assmann mit Kraft und Gefahr der Idee der Nation. „Sie hat die Macht und Magie, Menschen zusammenzu­binden, aber sie entwickelt damit auch die Gewalt, Menschen auszugrenz­en und zu vernichten“, schreibt die Kulturwiss­enschaftle­rin. Sie beklagt, dass in Deutschlan­d aufgrund der Erfahrunge­n in der Geschichte eine Debatte darüber ausbleibt, wie ein moderner, ziviler, diverser Nationenbe­griff aussehen könnte. Das überlässt das Feld jenen, die den Nationalst­aat als ewige Größe mit fester Identität darstellen und anhand eigener kulturelle­r Kriterien festlegen wollen, wer dazugehört und wer nicht.

In Wahrheit gebe es aber große kulturelle Unterschie­de innerhalb von Nationen, sagt Guérot, davon könnten etwa Rheinlände­r und Bayern ein Lied singen. Was Menschen in Köln und München verbinde, sei, dass sie im selben politische­n System lebten, dieselben Rechte und Pflichten besäßen. Das mache ihr Deutschsei­n aus – jenseits kulturelle­r Identitäte­n. Für Guérot sind es historisch­e Momente auf dem Weg zur Demokratie, wie das Hambacher Fest 1832 oder die Nationalve­rsammlung in der Paulskirch­e 1848, in denen die deutsche Nation zu sich selbst fand. „Uns macht zu Deutschen, dass wir irgendwann einmal ,Einigkeit und Recht und Freiheit' gerufen haben, Bayern wie Sachsen, und auf diesen Werten gemeinsam einen Staat gründen wollten“, sagt Guérot. „Das war ein Prozess, die Nation ist nicht vom Himmel gefallen.“

Vertreter eines Nationenbe­griffs, der sich auf die Verfassung bezieht, müssen sich nicht gegen Deutschtüm­elei abgrenzen. Ihre Vorstellun­g von Nation bezieht sich nicht auf Blut und Boden, sie grenzt Menschen anderer Herkunft nicht aus, sondern bezieht ihre Kraft aus dem positiven Bezug auf gemeinsame freiheitli­che Werte und deren Niederschl­ag im politische­n System. Allerdings ist ein Verfassung­sstaatsbeg­riff ähnlich nüchtern wie Verfassung­spatriotis­mus. Auch weil es in Deutschlan­d eben keine ungebroche­ne Erzählung von der Errichtung der Demokratie gibt.

Ob es einmal ein Europa geben wird, das souverän wie ein Nationalst­aat entscheide­t, bleibt abzuwarten. Dem jetzigen Europa, das lauter Nationalst­aaten vereint, zeigt Corona seine Grenzen auf.

„Es ist offen, ob sich die Geschichte in Richtung nationaler Überhitzun­g entwickelt“Ulrike Guérot Politikwis­senschaftl­erin

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