Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Schöne Bescherung
Wenn die Nievelsteins mit Kindern und Enkeln Weihnachten feiern, kommen normalerweise mehr als 30 Menschen zusammen. Dieses Jahr sitzt das Ehepaar alleine am Tisch. Doch die Familie schaut trotzdem zu – per Videokonferenz.
WEGBERG Immer kurz vor Heiligabend baut Josef Nievelstein die Krippe auf. In einer Ecke des gemütlichen Wohnzimmers, direkt neben dem Christbaum. Das ist gute Tradition, das muss so sein. Viel Platz darf das Ensemble aber nicht in Anspruch nehmen. Denn den brauchen die Nievelsteins: für ihre sechs Kinder, sechs Schwiegerkinder, 13 Enkel und einen Urenkel. Plus Anhang. Bis zu 34 Köpfe zählen sie, wenn sie aus allen Teilen Deutschlands in Wegberg zusammenfinden und der Esstisch zur Festtafel wird, die den Raum ausfüllt. Wer kommt, der kommt, es ist ein zwangloses Beisammensein. „Fröhliches Chaos“nennt Felicitas Nievelstein diese Treffen am ersten Weihnachtstag. Chaotisch wird es dieses Jahr wohl auch. Auf Baum und Krippe wollen die beiden ebenfalls nicht verzichten. Und doch ist alles anders. Denn die Tafel bleibt leer.
Schuld trägt das Virus, das Weihnachten nicht interessiert und das mit dem zweiten Lockdown ausgebremst werden soll. Große Feiern wie bei den Nievelsteins sind verboten. Das Ehepaar trägt es mit Fassung. Von Trübsal keine Spur. „Bedauern kann man nur die aktuelle Situation in der Welt“, sagt Felicitas Nievelstein, „aber nicht ein abgesagtes Familientreffen.“Stattdessen zeigt sich die Wegberger Sippschaft erfinderisch. Denn das Fest fällt nicht aus, es wird nur in den virtuellen Raum verlegt – als Zoom-konferenz. Inklusive Bescherung. „Jeder hat vorher einen Wichtel gezogen und ihm ein Geschenk geschickt“, sagt Felicitas Nievelstein. „Vor der Kamera muss jeder auspacken und erraten, von wem das Präsent sein könnte.“Auch diese Feier muss man sich also durchaus turbulent vorstellen. Wobei sie in diesem Jahr nicht die erste ihrer Art ist, denn die Familie hat geübt. Einer moderiert, sagt Josef Nievelstein, danach erzählt jeder nach der Reihe, was ihm so widerfahren ist oder was er auf dem Herzen hat. Hauptsache, das Virus bekommt keine Chance. „Alle haben Angst um uns“, sagt Felicitas Nievelstein. Sie ist 82 Jahre alt, ihr Mann feiert fünf Tage nach Weihnachten seinen 88. Geburtstag. Beide zählen damit zur Hochrisikogruppe. Was sie aber nicht allzu sehr umtreibt. „Mit einer so großen Familie lernt man irgendwann Gelassenheit“, sagt sie. Zudem seien sie als Kriegskinder einiges gewohnt, ergänzt ihr Mann. „Wir verhalten uns vernünftig, aber uns wirft so schnell nichts um.“
Tatsächlich wirken beide unerschrocken, strahlen Zuversicht aus. So seien sie auch durchs Leben gegangen, erzählen sie, immer nach vorne schauend, engagiert im Privaten wie in der Gemeinde. Beide stammen aus kinderreichen Familien und wollten selbst Nachwuchs. Geplant wurde aber nichts. Nach ihrer Hochzeit war Felicitas Nievelstein an dreiweihnachtsfesten hintereinander schwanger. Am Ende wurden es sechs Kinder, die alle ihren Platz in der Welt gefunden hätten – als Ingenieur, Biologe, Historiker, Lehrerin, Toningenieur und Schauspieler. Alle halten Kontakt untereinander und mit den Eltern, auch zu den Enkeln besteht eine enge Bindung. „Das liegt unter anderem daran, dass wir jedes Jahr mit den Enkelkindern eine Woche in die Berge gefahren sind“, erzählt Josef Nievelstein. Das schweiße zusammen, auf Lebenszeit. „Wir können das nur allen Großeltern empfehlen“, sagt Felicitas Nievelstein. „Verbringt viel Zeit mit euren Kindern und Enkeln. Sie werden sich immer daran erinnern.“
Noch im Sommer, als das Virus gerade pausierte, hat das Ehepaar auf einer Urlaubsreise alle Kinder besucht. Seither laufen die Kontakte vorrangig übers Telefon und über digitale Medien. Vieles haben sie erst lernen müssen, Videokonferenzen zum Beispiel. Aber es funktioniert. Und jeden Tag rufe irgendjemand an, sagt Felicitas Nievelstein. Langeweile: Fehlanzeige. Auch wenn ihre Kinder nicht körperlich anwesend seien – „alleine fühlen wir uns nicht“, sagen beide. Sie wissen, dass sie es gut getroffen haben. Felicitas Nievelstein kennt aber viele Menschen, denen es anders geht, die alleinstehend sind und einfach manchmal nur reden wollen. Ihnen gehört ihr Mitgefühl. Wie das Ehepaar überhaupt auch immer an diejenigen denkt, die nicht mehr dabei sein können, Familienmitglieder, Freunde, Bekannte. Auf ihrem Frühstückstisch brennt eine große bunte Kerze, die auf einem Kranz aus geschmolzenem Wachs sitzt. Seit mehr als 25 Jahren stecken die Nievelsteins immer eine neue Kerze auf die alte, abgebrannte. „Sie soll uns an alle Menschen erinnern, die mit uns am Tisch gesessen haben und nicht mehr da sind“, sagen sie.
An Weihnachten schauen die Nievelsteins aber nach vorne. Voller Hoffnung, dass es bergauf geht. Für die Familie, das Land und die Welt. Dass das Virus besiegt wird oder zumindest in die Schranken gewiesen. Der Verzicht auf das Weihnachtsfest ist da nur ein winziges Opfer. Man müsse jetzt etwas tun, damit es später besser werde, sagt Josef Nievelstein. Weihnachten ohne die Lieben, das ist einmal zu verschmerzen. Aber ohne Krippe? Niemals.