Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Merkels schwerstes Jahr
2020 ist das letzte vollständige Jahr ihrer Amtszeit, und es ist auch ihr schwierigstes. Die Kanzlerin muss an vorderster Stelle gegen die Pandemie kämpfen. Ihr Krisenmanagement beschert ihr hohe Umfragewerte.
Es ist Mittwoch, der 18. März 2020, als die Kanzlerin zu einem ungewohnten Mittel greift. Angela Merkel wendet sich mit einer dramatischen Tv-rede an die Nation. Mit einem ungewohnt persönlichen, emotionalen Appell: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankam“, beschwört sie ihre Landsleute. Die Warnung ist deutlich, besitzt bis heute erschreckende Gültigkeit: „Wie hoch werden die Opfer sein? Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren? Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand.“An diesem Tag sind die meisten Schulen im Land schon vier Tage geschlossen. Deutschland beklagt die ersten Corona-toten. Die Krise hat das Land fest im Griff.
Die Kanzlerin muss 2020 zum Ende ihrer Ära die dritte große Krise meistern: 2008 die Finanz- und Eurokrise, 2015 die Flüchtlingskrise, nun die Corona-krise. Es wird die größte Krise ihrer Amtszeit; nie zuvor ging es wörtlich um Leben und Tod. Dabei fing das Jahr, von dem viele unkten, Merkel werde es als Regierungschefin politisch nicht überleben, mit einer leichten Entspannung der damals schwelenden Koalitionskrise an. „Die 20er-jahre können gute Jahre werden. Überraschen wir uns einmal mehr damit, was wir können“, sagt die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache 2020. Sie wusste noch nicht, was der Welt, dem Land und ihr selbst bevorsteht.
Anfang Februar kommt es zu einer innenpolitischen Krise. Die CDU wählt einen Fdp-politiker zum Ministerpräsidenten – mit den Stimmen der AFD. Die Cdu-chefin Annegret Kramp-karrenbauer kündigt in den politischen Wirren danach ihren Rückzug an. Merkel rüffelt ihre Partei deutlich.
Und dann, quasi über Nacht, gesellt sich eine medizinische Ausnahmesituation dazu: Corona.
Merkel übernimmt. Als Wissenschaftlerin, Doktorin der Physik, erkennt sie den Zusammenhang von Infektionen und exponentiellem Wachstum schnell. Das Format der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) gewinnt an politischer Bedeutung. Im Bundestag werden Wirtschaftshilfen in Milliardenhöhe geschnürt, die Kanzlerin dirigiert den ersten Lockdown. Die Infiziertenzahlen sinken. Merkel und Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU), von Beruf Anästhesist, plädieren für weitere Vorsichtsmaßnahmen. Sie werden nicht mehr recht gehört.
Im Sommer reibt sich Deutschland verdutzt die Augen. Merkel besucht den bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-CHEF Markus Söder auf Schloss Herrenchiemsee. Es ist der Ausdruck eines Neuanfangs in der Beziehung zwischen CSU und Kanzlerin. Merkels schlechtes Verhältnis zu Söders Vorgänger Horst Seehofer hatte zwei Jahre zuvor fast die Fraktionsgemeinschaft gesprengt. Überhaupt sind Merkel und Söder in der Krise zu Vertrauten geworden. Als Mpk-vorsitzender bestreitet Söder an ihrer Seite zahlreiche Pressekonferenzen – die Einschätzung der beiden in Bezug auf die Gefährlichkeit der Krise ähnelt sich. Auch zu
Nrw-ministerpräsident Armin Laschet reist Merkel, besucht mit ihm die Zeche Zollverein – Spekulationen, wonach sie Söder im Rennen um die Unions-kanzlerkandidatur bevorzuge, will sie damit ausräumen. So ganz verschwinden diese jedoch nicht.
Ihren 66. Geburtstag feiert Merkel im Krisenjahr im Eu-ratsgebäude in Brüssel, kämpft dort an der Seite des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für den Eu-wiederaufbaufonds. Sie bleibt die Mahnerin in der Krise, spricht Dinge offen aus: etwa dass derwinter ohne Impfstoff und Medikament noch einmal eine große Herausforderung wird. Dass die Krise noch nicht vorbei ist, sosehr das auch alle herbeisehnen. Sie zeigt die innere Unabhängigkeit einer Politikerin, die keine Wahlen mehr gewinnen muss.
Und doch ist es auch das Jahr ihres persönlichen Comebacks. Die Union steigt in den Umfragen, Merkels persönliche Beliebtheitswerte bleiben konstant hoch. 71 Prozent der Deutschen geben in Umfragen im Dezember an, mit der Arbeit der Regierungschefin zufrieden zu sein. Doch dieses Jahr zeigt auch, dass es ihr in Teilen nicht mehr gelingt, sich durchzusetzen. Die Ministerpräsidenten folgen ihr im Herbst erst spät beim erneuten Herunterfahren des Landes – zu spät, wie sich später herausstellt. Ihre Prognosen werden ihr als Kassandrarufe ausgelegt.
Die Lage verschlechtert sich. Es gelingt nicht, Pflegeheime zu schützen, Intensivstationen rücken in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Idee der Politik, im November einen Lockdown zu verhängen, um das „normale“Weihnachtsfest zu retten, misslingt. Stattdessen appelliert Merkel im Bundestag mit einer dramatischen Regierungserklärung an ihre Landsleute: „Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es anschließend das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben“, sagt sie fast flehentlich. Die Ministerpräsidenten und die Regierungschefin beschließen kurze Zeit später einen Lockdown bis zum 10. Januar, die Geschäfte müssen kurz vor den Weihnachtsfeiertagen ihren Betrieb einstellen, auch die Schulen schließen erneut.
Wie es 2021 weitergeht? Ungewiss. 2020 wird in die Geschichtsbücher eingehen. Nun ist kein Politiker uneitel, auch Merkel nicht. Doch in diesem Jahr wird sie sich wünschen, einmal weniger recht gehabt zu haben.