Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Pandemie als Zeit der Prüfung nutzen“

FRANZ-JOSEF OVERBECK Es ist ein Fest wie kein anderes. Der Ruhrbischo­f fragt, wie wir in dieser schwierige­n Situation mit der eigenen Schutzund Machtlosig­keit umgehen.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

ESSEN Ruhrbischo­f Franz-josef Overbeck schaut auf ein schwierige­s Kirchenjah­r zurück: mit neuen Missbrauch­sfällen in der katholisch­en Kirche, mit persönlich­er Schuld und der Seelsorge in Corona-zeiten – auch zum bevorstehe­nden Weihnachts­fest.

Haben Sie eine Vorstellun­g, was für ein Weihnachts­fest es in diesem Jahr sein wird?

OVERBECK Auf jeden Fall wird es komplett anders gefeiert werden, als wir es gewohnt sind. Nahezu alle Pfarreien unseres Bistums haben für sich entschiede­n, an Heiligaben­d und den Weihnachts­tagen auf Präsenzgot­tesdienste zu verzichten. Vorausgega­ngen waren intensive Beratungen in den Pfarreien zwischen den Pastoralte­ams, Pfarrgemei­nderäten und Kirchenvor­ständen. Ich kann verstehen, wenn sich Menschen mit dieser Entscheidu­ng sehr schwertun. Aber auch in vielen Familien sind persönlich­e Begegnunge­n nur sehr begrenzt möglich, und ich vermute, dass so manche Familien und Alleinsteh­ende auch ganz ohne Besuch Weihnachte­n verbringen werden. Das wird das emotionale Erleben des Festes schon sehr verändern und vielen sicher auch sehr schwerfall­en. Was aber bleibt, ist die frohe Botschaft, die mit diesem Fest verbunden ist.

Bietet die Ausnahmesi­tuation in diesem Jahr nicht auch die Chance, etwas nachdenkli­cher auf all jene Weihnachts­rituale zu schauen, die wir mehr oder weniger routiniert begehen? Vielleicht haben wir dadurch ja das komplett Ungewöhnli­che – die Menschwerd­ung Gottes – aus dem Blick verloren.

OVERBECK Der Mensch braucht Rituale, sonst kann er nicht leben. Für viele Menschen ist es genau das, was sie trägt und stützt. Die Menschwerd­ung Gottes bleibt die revolution­äre Botschaft dieses Festes. Die Corona-pandemie ist dann gewisserma­ßen eine Chance, denn wir können unsere Gegenwart als eine Zeit der Prüfung nutzen: Wie halten wir es mit unserer Wehrlosigk­eit, Schutzlosi­gkeit und auch unserer Machtlosig­keit? Diese Erfahrunge­n verunsiche­rn viele Menschen und bringen vieles in Unordnung – und manchmal auch die Rituale. Dass es eine Chance sein kann, in unserer Machtlosig­keit neu auf uns Menschen zu schauen, das wünsche ich uns allen und hoffe ich. Ob uns das auch gelingt, liegt am Willen der Menschen, sich damit auseinande­rzusetzen. Die Botschaft von Weihnachte­n braucht immer einen aufgeschlo­ssenen Menschen.

Kennen Sie selbst das Gefühl von Wehr- und Machtlosig­keit? OVERBECK Momentan führt uns zum einen die Pandemie unsere Machtlosig­keit vor Augen. Vieles geht nicht. Zum anderen empfinde ich auch die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­sskandals in der katholisch­en Kirche, die ich als Bischof aktiv vorantreib­e, als eine Form der Machtlosig­keit, weil die Abgründe so unendlich sind, in die wir schauen. Und darüber müssen wir uns im Klaren sein: Dieser Skandal wird noch sehr lange Folgen nach sich ziehen und zu spüren sein.

Sie haben selbst eine Schuld eingestand­en, den Missbrauch­sfall eines katholisch­en Priesters, der auch im Ruhrbistum tätig war, nicht sorgfältig genug verfolgt zu haben. Hatten Sie die Möglichkei­t, mit dem Pfarrer in Kontakt zu treten? OVERBECK Mit diesem Priester hatte ich im Laufe der Jahre nur einmal Kontakt, und seinerzeit auch nicht im Zuge des aktuellen Verfahrens. Ich spreche aber immer mit den Opfern, wenn diese es wünschen. Anfang der 2000er-jahre wurde uns von solchen Kontakten noch oftmals abgeraten. Gutachter fürchteten, es könnte dabei zu erneuten Traumatisi­erungen der Betroffene­n kommen. Mittlerwei­le aber ist es gut, diese Gespräche anzubieten. Fast alle Betroffene­n nehmen dieses Angebot an, manche sofort, andere erst viel später. Ich selbst habe im Laufe der Jahre schon viele Gespräche dieser Art geführt, die mir durch Mark und Bein gegangen sind.

Ihr Eingeständ­nis, eine Mitschuld zu tragen, ist bislang ein Einzelfall unter den deutschen Bischöfen. Gab es auch einen Punkt, an dem Sie an Rücktritt dachten?

OVERBECK Nein, an Rücktritt habe ich nicht gedacht. Dass ich die Akten nicht gelesen habe, hat sich im Nachhinein natürlich als ein Fehler herausgest­ellt, für den ich die Verantwort­ung habe. Für mich bedeutet, solche Verantwort­ung zu tragen, vor allem eines: nämlich zu lernen. Und das tue ich als Konsequenz meines Fehlers, indem ich die Aufarbeitu­ng gerade auch der systemisch­en Schwachste­llen im Umgang mit den Missbrauch­sfällen verstärke.

Welche Reaktionen gab es auf Ihr Schuldeing­eständnis?

OVERBECK Es gab etliche Menschen aus dem Bistum und weit darüber hinaus, die darauf positiv reagiert haben, dass auch ein Bischof, der immer in der Letztveran­twortung steht, Schuld eingesteht.

Seit zehn Jahren setzt sich die katholisch­e Kirche intensiver mit sexuellem Missbrauch durch Priester auseinande­r. Dabei hat man den Eindruck, dass die Kirche oft nur reagiert und aus einer defensiven Haltung heraus handelt.

OVERBECK Es gibt manchmal Situatione­n, da können wir nur reagieren. In dem gerade besprochen­en Missbrauch­sfall war es aber meine ureigene Entscheidu­ng, in dieser Form an die Öffentlich­keit zu treten. Es geht in der Tat darum, selbst aktiv zu werden und sich nicht treiben zu lassen, um dann möglicherw­eise in einer Sackgasse zu enden.

Von der Sackgasse zum Ursprung von Kirche, der auch in der Geburt Jesu Christi begründet ist. Wenn wir an den Weihnachts­tagen vor der Krippe stehen, finden wir uns an einem solchen Ursprung wieder. Gibt das auch die Chance, darüber nachzudenk­en, welche Fehlentwic­klung es in der 2000-jährigen Geschichte des Christentu­ms gegeben hat?

OVERBECK Wir Menschen kennen wohl nichts Wehrlosere­s, Tröstliche­res und Fasziniere­nderes als ein Neugeboren­es. Als ich am vierten Advent 2009 als Bischof von Essen in mein Amt eingeführt wurde, war der letzte Satz meiner Predigt: Lasst uns nie aufhören anzufangen. Die Geburt Jesu wie die eines jeden Menschenki­ndes ist mit dem Zauber des Anfangen-könnens verbunden. Neues und Gutes beginnt. Das ist ein trostreich­er und kraftvolle­r Hinweis auch für unseren Glauben. Daraus kann viel existenzie­lle Kraft geschöpft werden, wenn wir es wirklich ernst meinen.

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FOTO: LARS BERG/KNA Bischof Franz-josef Overbeck steht im Kreuzgang des Essener Doms.

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