Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
In der Warteschleife
Gegen Viren wirken Medikamente nur begrenzt. Neue Mittel, die in den verschiedenen Phasen der Covid-19-krankheit helfen, werden derzeit ausprobiert.
DÜSSELDORF Die Welt macht derzeit eine Erfahrung, mit der sie nie im Leben gerechnet hatte: Eine Seuche überwältigt den Globus. Viele erkranken, viele sterben, die Medizin kämpft und muss sich in etlichen Fällen ihre Ohnmacht eingestehen. Gegenmaßnahmen wie Kontaktreduktion, Hygiene und Maskenpflicht sind hilfreich, werden aber nicht energisch genug angewendet, um die Pandemie einzudämmen. Und bis alle Menschen geimpft sind, wird noch viel Zeit vergehen.
Vor allem reiben sich viele ungläubig die Augen: Warum gibt es immer noch keine Medikamente für die schweren Fälle? Die Wurzel des Übels liegt in einem biologischen Faktor, den die Forschung seit Menschengedenken verzweifelt bekämpft: Der Erreger ist ein Virus.
1. Das grundsätzliche Dilemma Anders als Bakterien, für die es Antibiotika gibt, haben Viren keinen eigenen Stoffwechsel, sie können sich nicht selbst vermehren, sondern benötigen hierzu einen Wirt – die Zelle eines Lebewesens. Hat das Virus eine Zelle gekapert und sich in ihm eingenistet, veranlasst es diese Wirtszelle, neue Viren zu produzieren. Das Problem ist: Die Viren selbst bieten deshalb kaum geeignete Angriffspunkte, um sie an der Vermehrung zu hindern, ohne dabei auch körpereigene Zellen zu schädigen. Deshalb gibt es vergleichsweise wenige schlagkräftige antivirale Medikamente: Manche besitzen Nebenwirkungen, die gegen ihre Wirksamkeit aufgewogen werden müssen.
Auch Sars-cov-2 lässt sich als Virus nicht besiegen, die Medizin muss das Virus also in Aktion treffen: wenn es die fremde Wirtszelle entert, wenn es in ihr seine Vermehrung anregt oder wenn die neu produzierten Viren die Wirtszellen verlassen. So wirkt zum Beispiel das Herpes-mittel Aciclovir. Dieser Wirkstoff hemmt gezielt viruseigene Proteine, er wird als ähnlicher, aber falscher Baustein vom Nukleinsäurestoffwechsel der Wirtszelle akzeptiert und stoppt – einmal in die neu entstehende Dna-kette integriert – die Vervielfältigung des Erbguts. An ähnlichen Tricks forscht man auch bei Sars-cov-2.
2. Die Vorschusslorbeeren
In diesem Jahr gab es mehrere frohe Botschaften, sogar der US-PRÄsident Donald Trump schwang sich auf, ein Medikament mit Vorschusslorbeeren auszustatten. Gebracht hat Chloroquin nichts. Es zeigten sich vielmehr plötzliche Herzrhythmusstörungen bei vielen Patienten, die das Medikament nahmen. Der Grund: Viele von ihnen waren bereits herzkrank, als sie sich mit dem Coronavirus infizierten. Und da Chloroquin eine Teilstrecke des EKGS gefährlich verlängern kann, kam es unter der Behandlung zu sogenannten kardialen Arrhythmien, das Herz geriet dramatisch aus dem Takt, was sogar Todesfälle zur Folge hatte. Dann verschwand Chloroquin wieder vom Bildschirm.
Besser steht Remdesivir da. Das Mittel, das ursprünglich zur Behandlung der Hepatitis C entwickelt und später bei Ebola eingesetzt wurde, hemmt eine molekulare Reaktion, die auch von Coronaviren zur Vervielfältigung benötigt wird. Remdesivir hat im Laborversuch an Zellkulturen auch die Vermehrung von Sars-cov-2 gestoppt und bei Rhesusaffen die Erkrankungszeichen deutlich gemildert. In klinischen Studien konnte Remdesivir jedoch nicht völlig überzeugen. In einer Us-studie wurde zwar die Erkrankungszeit verkürzt, ein Rückgang der Sterblichkeit war jedoch nicht sicher nachweisbar.
Fachleute halten Remdesivir heute vor allem in der Frühphase der Erkrankung für sinnvoll, wenn die Virusvermehrung im Vordergrund steht. Da Remdesivir jedoch über mindestens fünf Tage täglich als Infusion verabreicht werden muss, besteht laut Deutschem Ärzteblatt „eine gewisse Schwelle, das Mittel bei Patienten einzusetzen, die noch nicht schwer erkrankt sind“.
3. Unklare Lage
Unklar ist die Lage bei Tocilizumab. Dieses Mittel kennen Ärzte als eine therapeutische Antwort auf eine andere Krankheit: die rheumatoide Arthritis. Gegen diese Autoimmunkrankheit ist Tocilizumab zugelassen. Das Medikament mit dem schwer auszusprechenden Namen zählt zur Gruppe der sogenannten monoklonalen Antikörper, die auch in der Krebstherapie oft segensreich wirken.
Die künstlich erzeugten Eiweißmoleküle sind aus derselben Mutterzelle geklont und übernehmen dort strategische Therapieaufgaben, wo der Mensch allein nicht weiterkommt. Das Andocken etwa des Botenstoffs Interleukin-6 auf der Zelloberfläche kann durch Tocilizumab verhindert werden. Somit entfaltet Interleukin-6 nicht seine volle, entzündungsfördernde Wirkung, und der gefährliche Zytokin-sturm, eine gefürchtete Spätreaktion bei Covid-19, kann abflauen. Dieser Ansatz wird nun auch bei Patienten mit einem sehr schweren Covid-19-krankheitsbild ausprobiert.
In der sogenannten Empacta-studie zeigte sich, dass Tocilizumab die Zahl der Covid-19-fälle mit mechanischer Beatmung verringern kann. Das Risiko der Kranken, eine mechanische Beatmung zu brauchen, war um 44 Prozent geringer als in der Kontrollgruppe (12,2 gegen 19,3 Prozent). Allerdings gab es unter Tocilizumab nicht weniger Todesfälle. Jetzt wollen die Forscher schauen, ob in der Patientengruppe bestimmte Kriterien vorlagen, die das Ergebnis beeinflussten. Der Pharmakonzern Roche betont, dass in der Empacta-studie rund 85 Prozent der 389 Teilnehmer zu ethnischen Minderheiten gehörten, vor allem Menschen hispanischer, amerikanisch-indigener und afrikanischer Abstammung. Diese Bevölkerungsgruppen sind sonst meist unterrepräsentiert.
4. Das wichtige Standardmittel Dexamethason zählt mittlerweile zur Standardtherapie bei Covid-19-verläufen. Es handelt sich um Kortison, genauer gesagt: um ein sogenanntes künstliches Glucocorticoid, das entzündungshemmend und dämpfend auf das Immunsystem wirkt. Dexamethason ist die bisher einzige medikamentöse Therapie, die bei besonders schweren Covid-19-verläufen zu einer nachweislichen Minderung der Sterblichkeit führt. Das hatte man sich auch von Remdesivir erhofft. Dexamethason kann als Tablette oder als Injektion oder Infusion gegeben werden. In allen Fällen beträgt die empfohlene Dosis bei Erwachsenen und Jugendlichen sechs Milligramm einmal täglich über einen Zeitraum von bis zu zehn Tagen.
5. Der richtige Moment
Sehr wichtig ist nicht nur der Zeitpunkt der stationären Aufnahme eines Covid-19-patienten, sondern auch das Vorgehen bei der Beatmung. Am Beginn der ersten Corona-welle hat man noch nicht genau gewusst, wie hoch die Infektiosität bei einer Covid-19-erkrankung ist und wie sich auch das Krankenhauspersonal beim Patienten infizieren kann. Gerade im intensivmedizinischen Bereich wurde noch schneller beatmet und auch intubiert, um die Aerosolproduktion der Erkrankten geringzuhalten.
Inzwischen setzt man zunächst auf nicht-invasive Beatmungsformen wie die Nasale High-flow-therapie (NHFL), bei der sehr viel Sauerstoff mittels Sauerstoffbrille über die Nase zugeführt wird. Erst wenn sich der Gasaustausch nicht mehr anders sichern lässt, kommt die Intubation in Betracht. Diese Vorgehensweise steht im Einklang mit neuen Leitlinien.
6. Gegen Embolien
In mehreren Fallberichten fielen schwere Lungenembolien und Schlaganfälle bei Covid-19-patienten auf. Mittlerweile ist bekannt, dass sich die Blutgerinnung nach einer Infektion mit Sars-cov-2 nicht selten massiv verändert. Dies kann an allen Orten des Körpers Embolien auslösen, die sich dann lösen und ins Gehirn ausgeschwemmt werden. Zwei Erkrankungen werden in diesem Zusammenhang ebenfalls diskutiert: eine Vaskulitis (Gefäßentzündung) und eine Endotheliitis (Entzündung der Innenwand eines Gefäßes). Deshalb überlegen Ärzte, ob sie bei Covid-19-patienten nicht vorbeugend Mittel zur Blutverdünnung geben.
Diese sogenannte Antikoagulation war an Us-kliniken bei Covid-19-patienten mit einem deutlichen Rückgang der Intubationen und Todesfälle verbunden. Dabei scheint es nach den Ergebnissen einer retrospektiven Studie im „Journal of the American College of Cardiology“keine Unterschiede zwischen einer niedrig dosierten prophylaktischen und einer höheren therapeutischen Dosierung zu geben.
7. Die Hoffnungsträger
Viele Hoffnungen ruhen auf einem Medikament, dessen Namen wir erst lernen müssen. Molnupiravir heißt es und wurde ursprünglich gegen Influenza entwickelt. Es baut gezielt Mutationen in die Erbsubstanz von Viren ein und vernichtet sie auf diese Weise. In Tierversuchen mit Frettchen stoppte Molnupiravir Influenza-infektionen und verhinderte dazu die Ansteckung weiterer Artgenossen. Verblüffend war: Mit Sars-cov-2 infizierte Tiere reagierten ähnlich. Bereits nach zwölf Stunden hatte die Anzahl nachweisbarer Viren bei den infizierten Tieren deutlich abgenommen. 24 Stunden nach Behandlungsbeginn waren keine infektiösen Partikel mehr nachweisbar.
Die ersten klinischen Studien laufen bereits; ein großer Vorteil ist, dass Molnupiravir als Tablette genommen werden kann (anders als Remdesivir). Sollten sich die Hoffnungen bestätigen, hätte man endlich ein Mittel für die früheren Phasen der Covid-19-erkrankung.
Noch andere Mittel sind in der Warteschleife, etwa Aviptadil, ein sogenanntes Polypeptid, das bei besonders schweren Fällen (mit maschineller Beatmung und Ecmo-versorgung) probeweise eingesetzt wurde und offenbar unerwartete Verbesserung gebracht hat. Aviptadil wurde als erstes Covid-19-mittel entwickelt, das die Vermehrung von Sars-cov-2 unter anderem in Lungenzellen blockieren soll.
8. Ein Ausblick
Die Medizinforschung ist derzeit erfinderisch wie selten. Könnten bestimmte Substanzen inhaliert werden, statt sie über die Vene zu spritzen? Könnte es sie als Nasenoder Rachensprays geben? An vielen, teilweise ganz neuen Wirkmechanismen wird gearbeitet, um Entzündungen im Körper direkt zu blockieren. Doch alles ist im Fluss der Studien und noch wenig konkret. Und immer wieder zeigt sich das Urproblem: Man hat es mit einem Virus zu tun. Der Münchner Infektiologe Clemens Wendtner hat das dieser Tage auf den Punkt gebracht: „Der Sprung vom Labor in die Klinik ist eine Herausforderung. Es braucht dafür aufwendige und länger laufende Studien. Das geht am Schluss nur mit Geld.“