Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Für die Einsamen in der Leitung
Rudolf Christ engagiert sich seit zehn Jahren bei der Telefonseelsorge und erlebt dabei immer wieder besonders schwere Momente.
SOLINGEN Seit zehn Jahren ist Rudolf Christ aus Solingen für die Sorgen der Menschen in der Leitung. Der 78-jährige Arzt, mittlerweile pensioniert, hört zu, wenn andere von ihrer Einsamkeit erzählen, von ihren Alkoholproblemen, vom Streit mit der Familie. Am Ende des Pandemiejahres sind die Gespräche intensiver geworden als ohnehin schon; Christ bleibt jetzt teilweise doppelt so lange am Hörer wie früher. Der fehlende Kontakt zu Mitmenschen belastet viele – insbesondere dann, wenn sie sonst viel Zeit mit Familie und Freunden verbracht haben. „Manchmal ist Zuhören für sie schon genug“, sagt der Telefonseelsorger.
Was Rudolf Christ von seinen Gesprächen berichtet, lässt sich auch bundesweit beobachten. Die rund 100 Telefonseelsorgen, die von der evangelischen und katholischen Kirche getragen werden, verzeichnen eine Zunahme der Gesprächskontakte. Bis zu 50 Prozent mehr Gespräche als vor der Pandemie habe es zu bestimmten Tageszeiten gegeben, berichtete Anfang Dezember die Evangelisch-katholische Kommission.
Wer allein lebe und Weihnachten vielleicht nicht im Kreis der Familie verbringen könne, fiele an Silvester zurück in die Einsamkeit, sagt der Leiter der Telefonseelsorge Duisburg, Mülheim und Oberhausen, Olaf Meier. Gerade am Ende des Jahres gebe es eine Häufung existenzieller Bilanzgespräche, so Meier. Wie ist das Jahr gewesen? Wie wird das nächste? Mitten in der Pandemie ist es kompliziert, auf solche Fragen positive Antworten zu finden.
Um Lösungen geht es bei der Telefonseelsorge aber nicht, sagt Rudolf Christ. „Die Gespräche sind eine anonyme Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, die man nicht mit anderen bereden kann – weil man selbst einsam ist, oder weil sie einfach zu peinlich sind.“Christ versucht, den Menschen auf der anderen Seite der Leitung einen neuen Blick auf die Situation zu geben, beim Perspektivwechsel zu unterstützen. „Wenn jemand Liebeskummer hat, dann kann man sagen, dass das zum Leben gehört und es ein ganz normales Gefühl ist.“
Manchmal genügen solche Worte nicht. Wie an Weihnachten, als Christ zwischen 17 und 21 Uhr Dienst hatte. Eine 30-jährige Frau rief an, sagte sie sei Alkoholikerin – eigentlich trocken, aber an diesem Abend deutlich angetrunken, wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellte. Eine Nachbarin hatte sie besucht, ihr als Dank für die Geschenke an die Kinder eine Flasche Sekt mitgebracht. „Das war ihr Verhängnis“, erzählt Christ. Die junge Frau trieb irgendwoher eine andere Flasche auf, trank einige Stunden. Alles, was Christ sagen konnte, war: „Hören Sie auf zu trinken!“Sie legte mitten im Gespräch auf. „In solchen Fällen weiß man nicht, was danach passiert“, sagt Christ. Die Anrufe sind anonym, ein Rückruf nicht möglich. Die einzige Chance für die Telefonseelsorger, die Polizei einzuschalten, ergibt sich, wenn der Anrufer freiwillig Nummer oder Adresse mitteilt. Das Schlimmste sei, wenn jemand ankündigt, Suizid begehen zu wollen, sagt Christ. Dann sage er demjenigen, er sollte doch mal überlegen, wem er sonst mit dieser Handlung schaden könne außer sich selbst. In solchen Fällen hofft der Telefonseelsorger, dass seine Worte ausreichen.
Der Perspektivwechsel kann helfen. Aber er sei nur eine mögliche
Strategie, bemerkt Christ. „Das ist auch das Wichtige an der Telefonseelsorge: Wir arbeiten keine Standardraster ab.“Jeder Seelsorger führe die Gespräche anders, die eigene Persönlichkeit spiele dabei eine Rolle. Man solle sich nicht verbiegen, sagt Christ. Das helfe dabei, eine persönliche Beziehung zu den Anrufern aufzubauen. Die Problemlösung obliege letztlich dem Anrufer.
„Besonders schwer ist die Situation häufig für die ohnehin seelisch Angeschlagenen“, sagt Olaf Meier von der Telefonseelsorge Duisburg, Mülheim und Oberhausen. „Wer zum Beispiel unter Depressionen und Ängsten leidet, der erlebt die Pandemie häufig als Problemverstärker in bereits sowieso schwierigen Lebenslagen.“Wenn dann noch eine emotionale Belastung durch die Feiertage und den Jahreswechsel hinzukomme, könne Corona „zum Brennglas für Lebenskrisen werden“.
Lichtblicke sind selten – doch es gibt sie. Christ erzählt von einem Anrufer, der sich unbedingt bei dem Seelsorger bedanken wollte, der ihm in einem schwierigen Moment geholfen hatte. Nur: Wer war es gewesen? Das ist schwierig herauszufinden, denn nicht immer sitzt der Gesprächspartner in der eigenen Region. Die Wahrscheinlichkeit, erneut auf einen Seelsorger aus einem früheren Telefonat zu treffen, ist gering. Der Dank landete zunächst in Solingen, auch wenn er aus Lübeck kam. Der gesuchte Seelsorger arbeitete, wie sich später zeigte, auf Sylt.