Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Vegetarismus im Land der Fleischliebhaber
In China verzichtet bislang nur eine Minderheit auf Fleisch. Die Corona-krise und Lebensmittelskandale leiten jetzt jedoch den Ernährungswandel ein.
PEKING Der Markt Shengfu Xiaoguan in Peking liegt an einem ruhigen Parkstreifen, der von kartenspielenden Senioren bevölkert wird. Wer jedoch die Eingangstür des fußballfeldgroßen Funktionsbaus öffnet, dessen Sinne sind einer Reizüberflutung ausgesetzt: die unterschiedlichsten Gerüche und laut feilschende Händler. Vor allem die Fisch- und Fleischtheken lassen keinen Zweifel an der Vielfalt der chinesischen Essgewohnheiten: Neben dem Schweinehack liegen frische Hühnerfüße sorgsam im Kühlregal aufgereiht, daneben ein Korb voller Garnelen und ein Aquarium mit Rochen gefüllt.
Die Volksrepublik ist kein Paradies für Vegetarier, nur etwa 50 Millionen der insgesamt 1,4 Milliarden Einwohner verzichten vollständig auf Fleisch. Traditionell werden in der chinesischen Küche Gemüse und Fleisch in vielen Gerichten gemeinsam verwendet: Beide sind in aller Regel fester Bestandteil einer Mahlzeit – sei es auch nur, dass ein paar Scheiben Trockenfleisch als Geschmacksverstärker auf dem Teller mit Blumenkohl landen. Ein Blick auf die Statistik zeigt: Global wird knapp ein Drittel aller Fleischspeisen in China verzehrt. Doch auch im Reich der Mitte hat die Corona-pandmie zu einer Debatte über den eigenen Nahrungsmittelverzehr geführt. Bereits im Sommer hat die Regierung den Wildtierhandel endgültig unter Strafe gestellt – eine überfällige Maßnahme, schließlich hat das Coronavirus aller Voraussicht nach am Huanan-wildtiermarkt in Wuhan zu einem ersten Infektionscluster geführt. Exotische Speisen wie Schlangen, Bambusratten oder Zibetkatzen sind jedoch nur in wenigen Provinzen Usus, in der Hauptstadt Peking im Norden des Landes rümpft man über solche Essgewohnheiten eher die Nase.
Doch bereits vor dem Ausbruch der Krankheit in Wuhan haben etliche Lebensmittelskandale die chinesischen Konsumenten verunsichert, darunter mit Melanin versetztes Babymilchpulver und die weitverbreitete Praxis vieler Restaurants, bereits verwendetes Speiseöl zu recyclen.
Aber auch der Verkauf von Fleisch geriet immer wieder in die Negativschlagzeilen, etwa durch Etikettenschwindel beim Ablaufdatum. Zudem gibt es kein anderes Land auf der Welt, das stärker von der afrikanischen Schweinepest getroffen wurde – im vergangenen Jahr dürften sich die Schweinebestände aufgrund des tödlichen Erregers nahezu halbiert haben.
„Früher waren wir Chinesen stolz auf unsere Fleischgerichte. Die Mahlzeiten bestanden zu 70 Prozent aus Fleisch und zu 30 Prozent aus Gemüse. Heute ist das andersrum“, sagt Starkoch Lin Shuwei, der durch eine Fernseh-kochshow landesweit bekannt ist. Der fotogene Chinese steht auf einer mit grünen Scheinwerfern beleuchteten Bühne in einem riesigen Raum, der wie das Innere einer gotischen Kapelle anmutet. Nestlé hat an diesem Dezemberabend zur Pressekonferenz geladen, um seine neue „Harvest Gourmet“-reihe in China auf den Markt zu bringen – die erste pflanzenbasierte Fleischalternative des Schweizer Mischkonzerns im Reich der Mitte. Das Konzept mag in Europa bereits weit verbreitet sein, in China jedoch leistet Nestlé durchaus Pionierarbeit. „Unser Ziel ist es, die Menschen von vegetarischem Essen zu begeistern. Wir bieten den Kunden den Geschmack und die Textur von Fleisch, verbunden mit den Gesundheitsvorteilen von Pflanzen“, sagt Altug Guven, Vize-präsident für Nestlé China.
Jahrelang haben die Nahrungsmittelwissenschaftler daran geforscht,
Speisen wie Kung-pao-huhn nach Sichuan-art oder rotgeschmorten Schweinebauch vegetarisch nachzuahmen und Fleisch durch andere Bestandteile zu ersetzen. Nun sollen die Speisen in Form von Tiefkühlwaren der chinesischen Bevölkerung schmackhaft gemacht werden.
„Westlichen Konsumenten geht es vor allem um Nachhaltigkeit“, sagt Nini Chiang von der Marketing-abteilung Nestlés. In China hingegen würden moralische Kategorien beim Fleischkonsum keine Rolle spielen. „Wir fokussieren uns auf den Aspekt der gesunden und ausgewogenen Ernährung“, sagt die Taiwanerin.
Dass das Projekt scheitern wird, ist unwahrscheinlich. Denn mithilfe des E-commerce-imperiums Alibaba hat Nestlé in den vergangenen Wochen und Monaten quasi in Echtzeit Unmengen an Daten über die potenzielle Zielgruppe gesammelt. Dafür hat der Konzern immer wieder mögliche Speiseprodukte auf den chinesischen SmartphoneApps platziert. Die Kunden wurden jedoch erst bei der Bestellung darüber informiert worden, dass es sich lediglich um eine Forschungsumfrage handelt.
Nestlés „Harvest Gourmet“trifft aber auch den politischen Zeitgeist. Chinas Regierung hat in diesem Jahr gleich mehrere Kampagnen eingeführt, um das Thema Nachhaltigkeit auch im eigenen Land mehr zum Thema zu machen. Im August etwa forderte Staatschef Xi Jinping seine Bevölkerung dazu auf, in Restaurants weniger Gerichte zu bestellen und keine Reste mehr übrig zu lassen. „Leerer Teller“haben Staatsmedien die bis heute anhaltende Kampagne getauft.
Gleichzeitig versprach Xi der internationalen Gemeinschaft bei einer Un-rede, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt bis zum Jahr 2060 Co2-neutralität erreichen würde. Für viele Experten, darunter Li Shuo von Greenpeace Peking, würde die Jahrhundertaufgabe vor allem mit der Landwirtschaft stehen oder fallen – jenem Bereich also, der die größte Herausforderung für eine Co2-freie Zukunft darstellt.