Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die Gesellschaft hyperventiliert
ANALYSE Die Aussetzung der Astrazeneca-impfungen hat eine Welle der Empörung ausgelöst. Manche finden das übertrieben. Doch die Gründe für die kollektive Aufregung liegen in der Geschichte der Krisenbewältigung.
Im Corona-krisenmanagement jagt ein Desaster das nächste. Nach der zögerlichen Impfstoffbestellung, dem Chaos bei der Impfterminvergabe und der fehlenden Strategie fürs Testen war das Aussetzen der Impfungen mit Astrazeneca ein trauriger Tiefpunkt der Misserfolgsserie. Und das, nachdem der unter Druck geratene Bundesgesundheitsminister nur noch über Fortschritte bei der Impfkampagne hatte sprechen wollen. Jähe Vollbremse, von den Experten des Paul-ehrlich-instituts (PEI) verordnet, danach totale Zerknirschung und maximale Verunsicherung in der Bevölkerung. Da hilft es nur wenig, dass die Europäische Arzneimittelbehörde (Ema) drei Tage später verkündete, sie halte an ihrer Empfehlung für Astrazeneca fest. Die nächste Empörungswelle war schon ausgelöst. Ist das, was Deutschland gerade erlebt, die hyperventilierende Gesellschaft?
Das Drama um Astrazeneca ist ein gutes Beispiel für die Eskalationsmechanismen, die derzeit scheinbar unaufhaltsam greifen. Das vorläufige Aussetzen der Impfungen war eine Vorsichtsmaßnahme. Das PEI konnte zunächst nicht sicher entscheiden, ob die bis dahin gemeldeten sieben Thrombose-erkrankungen mit drei Todesfolgen unter 1,6 Millionen Astrazeneca-geimpften auf die Impfung zurückgingen oder nur im zeitlichen Zusammenhang stehen – ob es also um Zufall geht oder Ursache. Die Verantwortlichen ließen Vorsicht walten. Sie wissen, wie kostbar das Vertrauen ist, wenn die Impfkampagne weitergehen soll, und wollten sich durch die statistisch breiteren Analysen der EU absichern. So viel Verständnis für wissenschaftliche Prozesse muss eine moderne Gesellschaft aufbringen. Man könnte also sagen: Missliche Lage, musste sein, lasst die Kirche im Dorf!
Doch das Ganze steht in einem Kontext: Die Vorsichtsmaßnahme wurde ergriffen, nachdem die Ema ausgiebig geprüft und den Wirkstoff für gut befunden hatte. Dass die Impfungen in Europa vergleichsweise schleppend anliefen, wurde ja gerade mit der großen Prüfsorgfalt begründet. Wenn dann nur Wochen später erneut geprüft werden muss, passt da etwas nicht zusammen. Man muss kein Impfskeptiker sein, um das befremdlich zu finden.
Außerdem hat die Ema keine Unbedenklichkeitserklärung abgegeben, sondern nur festgestellt, dass sie weiterhin nicht weiß, ob sie es mit Zufall oder Ursache zu tun hat. Weil aber nicht zu impfen auch gefährlich ist, nämlich für die statistisch größere Zahl von Risikopatienten, bleibt die Ema bei ihrer Empfehlung. Es ging also schon vor der Impfaussetzung darum, die Risiken des Impfens gegen die von Corona abzuwägen. Doch das sprechen die politische Verantwortlichen nicht so gerne aus. Das Unbehagen bleibt.
Die enorme Gereiztheit, mit der derzeit jeder Schritt im Krisenmanagement in der Bevölkerung aufgenommen wird, hat also Gründe. Und die liegen nicht nur in der Sache, sondern auch im Erwartungsmanagement der Regierung. Zu oft wurden scheinbar unumstößliche Wahrheiten verkündet, dann kleinlaut wieder kassiert – und Unangenehmes blieb unausgesprochen. Zu oft wurden Termine ausgegeben, die nicht zu halten waren. Das mag dem öffentlichen Druck geschuldet sein, klare Ansagen zu machen. Doch vor allem offenbart sich ein falsches Bild von den Bürgern, die angeblich mit Ködern wie Öffnung an Feiertagen oder Versprechungen wie „Bis Ende des Sommers bekommen alle ein Impfangebot“bei der Stange gehalten werden müssten. Als seien sie Kinder, denen man nur gut zureden müsse, damit sie spuren. Was auch bei Kindern nicht funktioniert.
In Wahrheit zeigen die Umfrageergebnisse, dass die Mehrheit der Deutschen zu viel Geduld und Selbstdisziplin bereit ist, solange sie einsieht, warum sie sich beschränken soll. Und solange sie das Gefühl hat, die Regierenden handelten rational. Dann können Bürger mit erklärter Unsicherheit und unpopulären Entscheidungen leben. So war es im Frühjahr. Auch damals war der Lockdown eine Belastung. Und Politiker mussten öffentlich einräumen, dass sie viele Gefahren noch nicht abschätzen konnten. Übel genommen hat die Mehrheit ihnen das nicht, denn sie haben ehrlich darüber gesprochen.
Inzwischen ist viel schiefgegangen, das besser hätte laufen können. Dann wird es schwieriger, auf Ehrlichkeit zu setzen. Vermeidbare Fehler zuzugeben, fällt besonders schwer. Das ist menschlich. Doch in der öffentlichen Kommunikation ist es fatal, denn damit beginnt das Lavieren, Vertrösten, falsche Hoffnungen wecken, das unweigerlich Enttäuschungen nach sich zieht. Dazu gehört auch, aus Angst vor Impfskeptikern nicht über Impfrisiken zu sprechen.
Und die Medien? Sind Artikel wie dieser nicht auch Trigger für die Hyperventilierung der Gesellschaft? In der Tat sind Selbstkritik und Selbstreflexion angebracht, denn die Konkurrenz um Aufmerksamkeit wächst, die Intervalldichte an Problemmeldungen ist mit Corona in die Höhe geschnellt, sich davon nicht treiben zu lassen, kritisch, aber nicht reißerisch zu berichten, ist eine Aufgabe, die nicht jeden Tag gelingt. Die Erregheit ist also auch mediengemacht. Dazu haben sich in digitalen Netzwerken die Echokammern für Frust vervielfältigt. Doch für den Umgang mit der Informationsflut ist derselbe mündige Bürger anzunehmen, der es auch mit ehrlicher Krisenkommunikation seitens der Politik aufnehmen kann.
Wenn ein Mensch hyperventiliert, aus psychischer Anspannung zu oft einatmet und zu viel Sauerstoff aufnimmt, wird er von Schwindel befallen. Einer Gesellschaft sollte das nicht passieren.
Es ist fatal, falsche Hoffnungen zu wecken, die dann Enttäuschung nach sich ziehen