Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Ich halte einen Schulstopp für falsch“
ROLF MÜTZENICH (SPD) Der Spd-fraktionschef widerspricht dem gesundheitspolitischen Experten seiner Partei, Karl Lauterbach, und kritisiert Jens Spahn.
Herr Mützenich, die nächste Ministerpräsidentenkonferenz steht am kommenden Montag an. Erwarten Sie einen erneuten Lockdown angesichts der steigenden Zahlen neuer Corona-infektionen?
MÜTZENICH Bund und Länder werden sich am Montag vor dem Hintergrund der vergangenen Ministerpräsidentenkonferenz darüber verständigen müssen, welche Öffnungen jetzt noch möglich sind. Bestimmte Schritte müssen eventuell auch wieder zurückgenommen werden. Aber wir sollten uns nicht allein an den Fallzahlen und der Inzidenz orientieren, das sieht auch das Infektionsschutzgesetz nicht mehr vor. Auch andere Kriterien müssen berücksichtigt werden, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Darauf haben auch bereits Gerichte mehrfach hingewiesen. Von daher glaube ich, dass die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen am Montag nicht nur auf die Zahlen schauen, sondern sehr verantwortlich auch weitere Öffnungen bedenken werden. Ich halte dies für notwendig.
Ist die Teststrategie komplett gescheitert?
MÜTZENICH Nein, aber die Grundlage für Lockerungen schon zum 1. März war die vollmundig angekündigte Teststrategie. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn trägt die Verantwortung dafür, dass die Erwartungen, die er geweckt hat, so nicht eingelöst werden. Wir brauchen ausreichend Tests, um weitere verlässliche Schritte zu gehen. Ich hätte mir gewünscht, Spahn hätte schon früher seinen Arbeitsschwerpunkt bei der Planung und Organisation des Impfens und Testens gesehen, statt in täglichen Interviews zum Teil gewagte Ankündigungen zu machen.
Sollte Karl Lauterbach den Posten vom Cdu-politiker Jens Spahn übernehmen, wie auf Twitter gefordert wird?
MÜTZENICH Jeder Fachpolitiker und jede Fachpolitikerin in meiner Fraktion ist derzeit mit der eigenen Arbeit so ausgelastet, dass wirklich niemand über weitere Aufgaben nachdenkt. Wir sind als SPD mit sechs Ministerinnen und Ministern in der Bundesregierung sehr gut vertreten und erfolgreich.
Karl Lauterbach hatte unter anderem einen Schulstopp bis Ostern verlangt, sofern in den Klassenräumen nicht ausreichend getestet werden kann. Soll dieser Punkt bei den Gesprächen am Montag auf den Tisch?
MÜTZENICH Karl Lauterbach hat vor allem eine medizinische Sicht auf die Pandemie. Es gibt aber auch andere Kriterien, eine pluralistische Betrachtungsweise dieser Krise ist notwendig. Im Gegensatz zu denjenigen, die nur mit Vorschlägen unterwegs sind, müssen diejenigen, die in der konkreten Entscheidungssituation sind, Maßnahmen gewichten. Ich halte einen solchen Schulstopp deswegen für falsch. Es müssen jetzt einfach sehr schnell sehr viele Tests beschafft werden und bei der Verteilung müssen Kitas und Schulen im Fokus stehen.
Junge Menschen werden die Schulden noch sehr lange abbezahlen müssen, die die Bundesregierung in der Corona-pandemie aufgehäuft hat. Wie wollen Sie Entlastung schaffen?
MÜTZENICH Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir uns auch finanziell mit allen notwendigen Anstrengungen gegen die Krise stemmen werden. Dabei bleiben wir. Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen, werden wir auch wieder wirtschaftliches Wachstum haben. Die SPD ist aber auch der Meinung, dass ein starker Sozialstaat und hohe Investitionen die beste Versicherung gegen die Folgen der Krise sind. Weil uns der soziale Zusammenhalt in Deutschland wichtig ist, wollen wir auch daran festhalten und anders als manche der politischen Konkurrenten nicht kürzen.
Ist mit der Union ein Gespräch über die Finanzierung der Krise überhaupt noch möglich?
MÜTZENICH Wenn die Union sich jetzt nicht aus der Verantwortung stehlen und die Koalition verlassen will, dann kommt sie nicht umhin, mit uns den Haushalt und die mittelfristige Finanzplanung im Kabinett zu beschließen. Die Union und der neue Cdu-vorsitzende Armin Laschet werden nicht daran vorbeikommen, endlich Farbe zu bekennen: Wie wollen sie die sehr hohen Pandemiekosten finanzieren, wenn sie nicht bereit sind, über einen breiteren finanziellen Spielraum zu sprechen? Gleichzeitig versprechen sie Steuersenkungen für Bestverdiener und Konzerne. Dieser Widerspruch wird auch im Bundestagswahlkampf eine Rolle spielen. Wir wollen mit einem starken Sozialstaat und einem hohen Investitionsniveau in dieses Jahrzehnt gehen und sind der Überzeugung, dass starke Schultern auch mehr tragen können und müssen.
Könnte die Regierung an dieser Frage vor der Bundestagswahl im September bereits scheitern?
MÜTZENICH Solange die Union nicht die Reißleine ziehen will, wird sie sich der Realität stellen und erneut die Schuldenbremse aussetzen müssen.
Die Masken- und Lobbyismusaffäre erschüttert die Unionsfraktion. Wie bewerten Sie die immer neuen Fälle?
MÜTZENICH Ich bin überrascht über die Dimension in Bundestagsfraktion und auf Länderebene. Wenn ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender und in Bayern ein ehemaliger Justizminister von Ermittlungen betroffen sind, zeigt das eine Fallhöhe, die ich mir nicht habe vorstellen können. Die Union hätte diese Situation vermeiden können, wenn sie auf unsere Vorschläge zu neuen gesetzlichen Transparenzregeln eingegangen wäre. Heute rächt sich, dass CDU und CSU diese Schritte immer wieder blockiert haben. Ein unverbindlicher Verhaltenskodex für die eigene Fraktionsgemeinschaft reicht offensichtlich nicht aus, das zeigen die aktuellen Fälle. Wir sind überzeugt, dass es schärferer Gesetze bedarf, um das Vertrauen in die Arbeit von Abgeordneten wiederherzustellen.
Union und SPD haben unterschiedliche Vorstellungen zu Transparenzregeln. Wann könnte der Kompromiss stehen?
MÜTZENICH Wir sind jederzeit bereit, auf der Grundlage unseres Zehn-punkte-vorschlags im Deutschen Bundestag die gesetzlichen Grundlagen zu verabschieden. Leider ergibt sich aber aus den bisherigen Gesprächen nicht, dass die Union zu diesen notwendigen Schritten bereit ist.
Wie können Sie sicher sein, dass sich aus Ihren Reihen niemand bereichert hat?
MÜTZENICH Wir haben in den vergangenen Wochen mit unseren Kolleginnen und Kollegen gesprochen und konnten feststellen, dass unsere Abgeordneten im Zusammenhang mit der Beschaffung der Masken weder gegen Regeln noch gegen ihr Selbstverständnis verstoßen haben. Wenn Unternehmen aus Wahlkreisen an Abgeordnete herangetreten sind, so haben die das Anliegen weitergeleitet ohne persönlichen Profit.
Können Sie es ausschließen? MÜTZENICH Ich bin vor dem Hintergrund der geführten Gespräche der Überzeugung, dass ich es ausschließen kann.
Warum profitiert die SPD nicht vom Federlassen der Union?
MÜTZENICH Das Vertrauen in die Union ist schon vor der Maskenaffäre gesunken. Wir werden alles dafür tun, dass das Land gut durch die Krise kommt. Dafür arbeiten die SPD-BUNdestagsfraktion und in der Bundesregierung unsere Ministerinnen und Minister mit Olaf Scholz an der Spitze. Aber wir machen auch deutlich, dass wir für den Wahlkampf bereits gerüstet sind. Die Entscheidung eines frühen Programmentwurfs und der Kanzlerkandidatur war richtig. Das wird sich auszahlen.