Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Die Nöte der Jugendlichen kommen zu kurz“.
ALEXANDER KLINGEN Wie Corona die Jugendfreizeiteinrichtungen trifft, berichtet der stellvertretende Leiter des V24 in Oberbilk.
OBERBILK Im V24 in Düsseldorf-oberbilk können sich normalerweise Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 25 Jahren kreativ austoben, Tischtennis spielen oder einfach Zeit miteinander verbringen. Auch Bewerbungstrainings bieten die sechs hauptamtlichen Mitarbeiter an. Derzeit läuft aber fast alles anders, wie der Sozialpädagoge und stellvertretende Leiter Alexander Klingen berichtet.
Wie gehen Sie in Ihrer Einrichtung mit den Einschränkungen um? ALEXANDER KLINGEN Wir versuchen, so flexibel wie möglich auf die Maßnahmen zu reagieren und den Jugendlichen trotz allem ein paar schöne Stunden zu ermöglichen. Normalerweise kommen pro Tag um die 100 Kinder und Jugendlichen, viele sind fast jeden Tag da. Jetzt haben wir für die Sechs- bis Zwölfjährigen zwei Fünfergruppen und für die elf- bis 18-Jährigen ebenfalls. Die Jüngeren kommen montags bis freitags von 16 bis 18 Uhr, die Älteren von 18.30 bis 20.30 Uhr, dazwischen wird alles gereinigt und desinfiziert. Alle müssen sich vorher anmelden und ihre Daten hinterlassen. Zum Glück ist unser Haus groß, sodass die Betreuung zweier Gruppen gleichzeitig möglich ist. Und wir haben einen Hof, auf dem wir das Angebot erweitern können. In den Osterferien haben wir hier zum Beispiel mit einem Künstler gemeinsam eine neue Chillecke gebaut. Aber es fällt natürlich vieles weg, zum Beispiel unsere Jugend-disco, die sonst einmal im Monat stattfindet, das ist schon schmerzhaft.
Haben Sie auch virtuelle Angebote? KLINGEN Im vergangenen Jahr mussten wir für mehrere Wochen komplett schließen. Um den Kontakt mit den Jugendlichen zu halten, haben wir einen Videochat eingeführt. Wochentags ist dieser nachmittags für zwei Stunden geöffnet und wird sehr gut angenommen. Außerdem haben wir vor Kurzem unsere Stadtteilrundgänge wieder aufgenommen, bei denen wir bestimmte Orte besuchen, wo sich Jugendliche treffen, um mit diesen ins Gespräch zu kommen. Wir verleihen Spielgeräte und Brettspiele und geben Rezepte- und Spieltüten ,to go' aus.
Sie kennen die Kinder und Jugendlichen gut. Haben sie sich in der Pandemie verändert?
KLINGEN Die Jugendjahre sind eine Zeit, in der viel passiert, das Sozialverhalten entwickelt sich, es bilden sich Freundschaften und Peer Groups, viele verlieben sich zum ersten Mal, finden sich selbst. Dass sie sich in dieser Zeit so wenig mit anderen treffen, messen und unterhalten können, ist auf jeden Fall ein großer Einschnitt und schwierig. Inwieweit sich das auf ihre Entwicklung auswirkt, ist jetzt aber noch nicht abzusehen. Was wir sehen, ist in jedem Fall, dass sie sich sehr schnell an die neuen Regeln wie Abstandhalten, Masketragen und die Vorabanmeldung gewöhnt haben. Das ist einerseits toll und andererseits auch traurig, weil es in dieser Phase eigentlich so nicht sein sollte. Und wir beobachten, dass Jugendliche, die schon vor Corona Schwierigkeiten hatten, Anschluss an eine Clique zu finden, es jetzt noch schwerer haben und zunehmend vereinsamen.
Manche Jugendliche suchen sich offenbar auch andere Beschäftigungsmöglichkeiten, zum Beispiel in der Altstadt.
KLINGEN Viele Einrichtungen sind seit über einem Jahr geschlossen oder wie das V24 nur sehr begrenzt geöffnet, da verändert sich natürlich auch das Freizeitverhalten. Der geschützte Raum, an dem sie sich sonst ausprobieren können, fällt für viele weg. Auch sich mit anderen zu treffen, ist kaum möglich – zu Hause haben viele zu wenig Platz oder die Eltern erlauben es nicht. Auch mal in Ruhe telefonieren oder videochatten ist da nicht möglich. Also gehen sie in den öffentlichen Raum und fallen dort natürlich auf. Ihnen fehlen einfach die Alternativen und gerade in dieser Lebensphase brauchen Kinder und Jugendliche den Kontakt zu anderen. Es ist zwar gut, dass es die sozialen Medien und das Telefon gibt, aber das reicht nicht aus.
Wird das von der Politik ausreichend beachtet?
KLINGEN Mein Eindruck ist, dass die Jugendlichen mit ihren unerfüllten Bedürfnissen wenig Aufmerksamkeit bekommen. Es wird in Gesellschaft und Politik vor allem über sie gesprochen, wenn sie sich nicht an Regeln halten, ihre Nöte aber kommen zu kurz. Wenn man vermitteln würde, dass auch ihr Verhalten zum Gelingen des großen Ganzen beiträgt, wäre das viel effektiver, als sie einfach zu verurteilen. Die wichtigste Botschaft wäre aber: Ihr seid uns wichtig. Das kommt bei vielen derzeit nicht an. Eine Möglichkeit wäre hier in Düsseldorf, den Jugendrat stärker in die Entscheidungsfindung einzubinden. Die machen wirklich tolle Arbeit, auch einer der
Jugendlichen, die regelmäßig im V24 sind, gehört dem Rat an. Das ist eine Ermutigung für alle, wenn sie sehen: Mir wird zugehört und ich werde ernst genommen.
Ein Ende des Lockdowns ist derzeit nicht in Sicht. Wie planen Sie für die kommenden Wochen und Monate?
KLINGEN Die Notbremse greift zwar, das hat auf unsere Einrichtung zum Glück aber keine Auswirkungen. Wir können mit unserer begrenzten Öffnung weitermachen. Allgemein ist das Planen im Moment fast nur von Woche zu Woche möglich. Trotzdem haben wir einen Jahresplan ausgearbeitet und im Sommer zum Beispiel ein weiteres Kunstprojekt und im Herbst eine sogenannte Silent Disco im Hof geplant. Alles aber unter Vorbehalt, damit wir möglichst flexibel auf die Pandemie-entwicklung und die politischen Entscheidungen reagieren können. Und das Videochat-angebot zum Beispiel werden wir in jedem Fall weiterführen. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten: Eine Jugendliche, die daran regelmäßig teilnimmt, hat über Instagram ein Mädchen aus der Schweiz kennengelernt, die jetzt auch oft dabei ist und erzählt, wie es bei ihnen so läuft. Das wäre sonst nie möglich gewesen und ist ein toller Blick über den Tellerrand für alle. Ich kann mir deshalb auch gut vorstellen, dass wir den Videochat auch weiterführen, wenn sich die Corona-situation entspannt. Als Ergänzung zum normalen Programm ist das eine gute und niedrigschwellige Möglichkeit, sich persönlich auszutauschen.