Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Corona trifft die sozial Schwachen
ANALYSE Die Infektionszahlen in der Pandemie sind in Stadtteilen mit viel Migrationsanteil höher als anderswo. Das liegt an beengten Wohnverhältnissen und größerer Armut. Impfkampagnen vor Ort könnten Abhilfe schaffen.
Der Essener Gesundheitsdezernent Peter Renzel wollte es genau wissen. Er überprüfte alle der Stadt gemeldeten Corona-infizierte, die zwischen dem 1. März und dem 14. April im dortigen Gesundheitsamt eingingen. „Von den 3921 Menschen jedweden Alters hatten 2001 einen Namen, der auf einen Migrationshintergrund schließen lässt“, sagte Renzel der „Westdeutschen Allgemeinen“. Danach hätte jeder Zweite, der mit dem Coronavirus angesteckt wurde, einen Migrationshintergrund. Der Anteil der Migranten an der Essener Gesamtbevölkerung beträgt 35 Prozent.
Man mag die Methode für angreifbar halten, aber sie gibt einen Hinweis darauf, dass die Corona-pandemie auch ein gewaltiges soziales Problem darstellt, weil die Seuche wie andere Volkskrankheiten vor allem ärmere Schichten heimsucht. Und das betrifft in größerem Umfang gerade Menschen mit Migrationsgeschichte.
Dem Beigeordneten Renzel geht es nicht darum, Vorwürfe gegen Migranten zu erheben, sondern auf besondere Probleme aufmerksam zu machen. Migranten stellten etwa 72 Prozent der Hartz-iv-bedarfsgemeinschaften in Essen, viele von ihnen lebten auf weniger Quadratmetern als Menschen in reicheren Vierteln. Auch Ärzte in Kliniken wie dem Krankenhaus Bethanien in Moers berichten immer wieder davon, dass viele Covid-patienten auf den Intensivstationen ausländische Wurzeln hätten.
In Köln liegen für die einzelnen Stadtteile inzwischen genaue Infektionszahlen vor. Von den zehn Vierteln mit dem höchsten Migranten-anteil übertreffen acht bei der Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner (Inzidenz) den Schnitt der Rhein-metropole von 240 (Stand Dienstag). Einige Viertel wie Gremberghoven (717), Neubrück (630) oder die Trabantenstadt Chorweiler (520) liegen sogar deutlich über dem Inzidenzwert der Domstadt. Die Verwaltung Kölns erhebt bei den Infektionen nicht, ob bei den Patienten ein Migrationshintergrund vorliegt. Aber die reicheren Viertel wie Lindental, Junkersdorf oder Neuehrenfeld mit einem deutlich geringeren Migrationsanteil haben Inzidenzen von unter 100. Das Villenviertel Hahnwald kommt nach dieser Statistik sogar auf eine Inzidenz von 0. Der Tv-satiriker Jan Böhmermann fragt sich auf Twitter angesichts dieser Zahlen, in „wessen Interesse es wohl ist, jetzt über Lockerungen nachzudenken“.
Für den Düsseldorfer Medizinsoziologen Nico Dragano sind solche Zahlen nicht überraschend. „Die Corona-pandemie hat die soziale Ungleichheit verschärft – wie übrigens bei allen Volkskrankheiten. Sie treffen vor allem die ärmeren Schichten.“In den Vierteln mit hohem Migrationsanteil sind die Einkommen der Menschen niedriger, die Arbeitslosigkeit im Schnitt höher.
Die Stadt Düsseldorf hat unlängst gemeinsam mit der Heinrich-heine-universität in einer Forschungsarbeit über den Nachweis von Antikörpern repräsentativ ermittelt, wie hoch die tatsächliche Anzahl der Infizierten ist. Auch dort stellte sich heraus, dass in Stadtteilen mit eher niedrigeren Einkommen, weniger Einfamilienhäusern, höherer Arbeitslosigkeit und höherem Ausländer- und Migrantenanteil das Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken, deutlich ausgeprägter ist als in den wohlhabenderen Vierteln mit einer geringeren Migrationsquote. Ähnliche Zusammenhänge werden auch aus Berlin, Hamburg oder München berichtet.
Die Medizin-ethikerin Christiane Woopen empfiehlt deshalb Impfmobile für sozial schwierige Viertel, also meist solche mit einer hohen Zahl von Migranten. Damit käme der Impfstoff zu den „Familien und an Arbeitsorte, wo es Probleme mit dem Abstand halten gibt“, meint die Kölner Medizin-professorin. Die Stadt Duisburg exerziert das bereits in einem Obdachlosenprojekt vor. Dort hat die Gesundheitsbehörde schon am 8. April damit angefangen, die Menschen vor Ort in den Hilfseinrichtungen zu impfen. Von den 288 Menschen, die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe besuchen, sind nach Angaben der Stadtverwaltung bereits 63 geimpft worden – bisher mit dem Impfstoff von Biontech/pfizer.
Noch sind Vakzine Mangelware, deshalb besteht auch ein gewisser Verteilungskampf um die Spritzen von Moderna, Astrazeneca und Biontech. Menschen mit Vorerkrankungen, Angehörige von Schwangeren, Grund- und Förderschullehrer sowie Ärzte, Erzieher, Sozialarbeiterinnen und Pflegekräfte werden neben den Älteren vorrangig geimpft. Doch die Diskussion um die Aufweichung der Impfreihenfolge hat längst begonnen. Und da gibt es Gründe, neben Lehrern oder Beschäftigten in Bereichen mit viel sozialen Kontakten auch Personen zu bedenken, die auf engem Raum leben und deshalb wenig Möglichkeiten haben, Distanz zu anderen Menschen zu finden.
Nicht zuletzt sprechen Gründe der besseren Integration dafür, gezielte Impfkampagnen in sozial benachteiligten Stadtvierteln zu starten. Noch halten sich die meisten Gemeinden und Stadtverwaltungen mehr oder minder strikt an die vorgegebene Impfreihenfolge. Und Aktionen in sozial benachteiligten Vierteln erstrecken sich vornehmlich auf Tests, kaum auf Impfungen. Das könnte und sollte sich ändern. In Köln etwa sollen Stadtteile mit einem hohen Infektionsrisiko bald ein Sonderkontingent an Impfdosen erhalten. Noch sträubt sich allerdings das Land Nordrhein-westfalen, die Impfreihenfolge hier aufzuweichen.
„Die Pandemie hat die soziale Ungleichheit verschärft – wie bei allen Volkskrankheiten“Nico Dragano Düsseldorfer Medizinsoziologe